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Mein Leben ohne Talkshows: Jetzt ist es besser

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Seit ungefähr zwei Monaten gucke ich keine Polit-Talkshows mehr. Das war weder mein Plan noch ein Experiment oder so. Ich habe mich auf ein Interview vorbereitet, deswegen war einfach keine Zeit für Plasberg, Maischberger, Illner und wie sie alle heißen. Aber nach und nach habe ich festgestellt, wie gut das tut, auf diese unsäglichen, unsachlichen, um sich schießenden und letztlich ergebnislosen Debatten zu verzichten.

Und jetzt stelle ich fest: Es ist besser. Nicht die Welt, natürlich, die nicht. Aber mir fehlt nichts. Was auch immer politisch interessant oder wichtig ist, kann ich mir einsammeln. Im Internet, auf YouTube, sogar in den Mainstreammedien, denn selbst die haben ihre lichten Momente. Deswegen finde ich übrigens auch den Begriff „Lückenpresse“ viel besser als „Lügenpresse“. Denn Letzteres impliziert, dass alles – und zwar ausnahmslos alles -, was der Mainstream schreibt und verbreitet, gelogen wäre. Doch würde man das ernsthaft behaupten wollen, wäre das ganz offenkundig gelogen. Aber das nur am Rande.

Ich habe mich zwischenzeitlich gefragt, was uns diese Polit-Talkshows eigentlich bringen. Sicher, wir sehen unsere „Helden“, also die, denen wir gern zuhören, deren Meinung wir vertreten. Wir nicken, wenn sie sagen, was auch unserer Meinung entspricht, freuen uns, wenn sie sich gut „verkaufen“ oder, um es weniger plakativ zu sagen: die Stellung halten. Das ist schön, ich gönne das meinen persönlichen Helden wirklich sehr. Und wenn sie damit womöglich den einen oder anderen überzeugen, seiner Denke eine neue Richtung zu geben – umso besser.
Aber daran glaube ich nicht wirklich. Denn wenn ich beispielsweise Söder, Seehofer, Petry oder Nahles in einer Talkshow sehe und höre, bewirken sie bei mir keinen Sinneswandel. Und umgekehrt werden Seehofer- oder Petry-Fans auch nicht plötzlich erleuchtet, wenn Sahra Wagenknecht richtige (wohlgemerkt: für mich richtige) Dinge sagt.

Dann denke ich schon eher über das Gesagte nach, wenn Christian Lindner von der FDP in irgendeinem kleinen, unauffälligen Format plötzlich Dinge sagt, von denen ich denke: Ok, hätte ich jetzt nicht vom Lindner gedacht. Es gab tatsächlich einen solchen Fall, ich erinnere mich nur nicht mehr, wo das war, aber in einer Talkshow war es nicht, so viel ist sicher.

Im Grunde sind Polit-Talkshows für die Zuschauer einfach nur anstrengend, finde ich. Ich tue mir eine knappe Stunde Streit an, der – mal gut, mal weniger gut – moderiert wird, ich höre, was gesagt wird, kann es aber nicht verarbeiten. Weil dann schon der nächste Kasper seine Redezeit für sich beansprucht. Das geht in die eine Richtung, in die andere Richtung, wie beim Tennis, mein Kopf bewegt sich hin und her, hin und her, hin und her, und dann sagt der Moderator oder die Moderatorin, dass jetzt was anderes dran ist, gleichzeitig (ja, wirklich: gleichzeitig!) mischen sich zwei bis drei Diskussionsteilnehmer ein, um zu betonen, dass sie eben nicht ausreden durften und dringend noch etwas sagen müssten, das sich auf das bezieht, was vor zwei, 10 oder 34 Minuten von einem anderen Diskussionsteilnehmer gesagt wurde. Und ich sitze da und denke: Oh Mist, geht es jetzt von vorne los?

Polit-Talkshows kosten Zeit, und Nerven. Man geht ja doch mit, ist emotional betroffen oder so ähnlich. Man regt sich auf, wippt im Sessel oder auf dem Sofa nach vorn und hinten, empört sich, schimpft, applaudiert und holt sich zwischendurch Chips. Klüger wird man nicht, aber dicker, das könnte passieren.

Chips und Spiele. Von mir aus. Ich will niemandem sagen, dass er keine Polit-Talkshows mehr gucken soll, denn wie sagte schon das zeitlose Genie Helge Schneider: „Bei mir kann jeder machen, was er will.“ Bei mir auch, also guckt weiter Talkshows, ich maße mir kein Urteil darüber an, wem das was bringen mag.

Aber ich gucke sie nicht mehr, zumindest eine Weile nicht. Und, ja, wirklich, ganz ehrlich: Jetzt ist es besser.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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