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Flüchtige Begegnung mit dem Häscher

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Und dann stand er neben mir: Mein Häscher – unser Häscher. Ganz nah, in natura. An mich halten, dachte ich nur – ich muss an mich halten.

Ein Gastbeitrag von Roberto De Lapuente.

Ein Donnerstagmittag in Berlin. Nähe Friedrichstraße. An der Ecke zu einer Bäckerei bohren und buddeln mehrere Bauarbeiter in einem Loch herum. Etliche Passanten gucken dabei zu. Ich, aus dienstlichen Gründen in der Bundeshauptstadt, vernehme den unsäglichen Lärm. Was gibt es da zu sehen, fragte ich mich. Besonders interessiert war ich freilich nicht, hatte nur Angst, dass die Bauarbeiter eine Weltkriegsbombe gefunden haben könnten – dann wäre mein Termin wohl geplatzt; das Areal für unbestimmte Zeit gesperrt gewesen.

Als ich mich näherte, erblickte ich ihn. Er kam irgendwo aus der Häuserzeile gegenüber heraus. Er trug eine leberwurstfarbene Hose und ein weißes Hemd. Die Brille saß ihm schief auf der Nase. Er stierte ins besagte Loch. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. War er das wirklich? Mein Häscher? Der Häscher von vielen Bürgern in Deutschland? Ja, von Millionen Menschen?

Verurteilender Mediziner

Da stand er: Er, der den Ungeimpften Tyrannei unterstellte. Der immer mehr Härte gegen all jene forderte, die sich nicht mit einem mRNA-Serum »behandeln« lassen wollten. Als in Niedersachsen die 2G-Regelung im Einzelhandel gerichtlich gekippt wurde, schimpfte er über die Justiz: In seinen Augen sollte das Gesetz offenbar dabei helfen, Ungeimpfte zu diskriminieren. Am Arbeitsplatz sollten sie, seiner Meinung nach, außerdem Probleme bekommen. Der Impfpflicht redete er ohnehin das Wort. Auch Kinder sollten in den Genuss dieser Pflicht kommen.

Da stand er also: Ulrich Montgomery. Oberster Ärztefunktionär. Ehemaliger Präsident des Weltärztebundes. Wie er leibt und lebt. Stand da und guckte in den Abgrund.

Wegen Menschen wie ihm fürchtete ich mich in der dunklen Zeit vor dem Leben. Zog ich mich zurück, brütete ich depressive Episoden aus. Dachte ich daran, dass das Ende meiner Existenz vielleicht nicht ganz schlecht wäre. Wegen Leuten wie Montgomery hatte ich keine Lebensfreude mehr, fühlte ich mich verfolgt und beobachtet, unter Druck gesetzt und marginalisiert. Ich war Freiwild – ich und so viele andere. Zum Abschuss freigegeben. Und das nur, weil ein älterer, selbstgerechter Herr despotische Phantasien hatte.

Natürlich tat er das nicht alleine. Auch andere teilten kräftig aus. Aber Montgomery: Der war doch mal Arzt. Hatte der nicht wertfrei zu sein? So sollten Mediziner im Idealfall auftreten: Sachlich. Und ganz besonders emotionsarm. Er sollte Verständnis für die Entscheidungen der Menschen haben, egal wie sie ausfallen: Mediziner beraten einen – sie erteilen einem keine Befehle.

Unerträglicher Anblick

Dieser hier tat jedoch genau das in jener Zeit. Er bellte Befehle in die Öffentlichkeit und stigmatisierte Menschen, die im ärztlichen Weltbild ja immer auch Patienten sind. Seinen Ruf als Mediziner missbrauchte er, um seinen menschenfeindlichen Worten eine Aura von Expertise zu verleihen. Wenn Menschen wie er etwas sagen, glauben noch immer viel zu viele, dass es sich um eine Fachmeinung handelt.

Und nun stand er da. Ich war – ich verwende das Wort nicht gerne – getriggert. Ich gebe zu, ich ballte die Fäuste in meiner Jackentasche. Eigentlich … aber nein, das geht nicht. Noch bin ich ein zivilisierter Mensch. So trat ich in den inneren Dialog mit mir selbst – zwischen den verschiedenen Stimmen, die im Kopf durcheinandergingen, entspann sich ein regelrechter Streit. Er hat mir Leid zugefügt, seine Öffentlichkeit genutzt, um Menschen zu schaden. Wieso läuft dieser Mann frei herum?

Ich stand neben ihm, mit mir ringend. Zu keinem Zeitpunkt war die Situation so, dass ich kurz vor einem gewaltsamen Übergriff stand. Aber natürlich spukte auch diese Option in meinem Kopf herum. Die Gedanken sind frei – das sage ich explizit in Zeiten wie diesen. Ich darf in meinem Kopf gewaltsam sein. Das ist mein Recht. Es kommt darauf an, was ich letztlich tue.

Was ich tat? Ich stand kurz neben ihm – und neben mir. Starrte ihn an. Ging aber nach kurzer Zeit weg, ich konnte den Anblick des verknitterten alten Mannes nicht länger ertragen. Du warst mein Häscher, dachte ich mir. Mein Verfolger. Mein Alptraum. Du hast kein Recht, meinen Weg zu queren. Du nicht!

Konfrontation mit Montgomery?

Ich bog um die Ecke, mein Ziel war nicht mehr weit entfernt. Erstmal abgebogen hielt ich inne. Darf ich ihn so entkommen lassen? Wieder gingen die Stimmen durcheinander: Fühlt es sich so an, wenn Menschen dieser Tage im Lande ausrasten und nicht mehr an sich halten können? Nachvollziehbar allemal – aber ich möchte das nicht für mich. Er hat nicht verdient, dass er zum Opfer gemacht wird. Er ist ein Täter. Ein Brandstifter und Spaltungsagent.

Dann fiel mir ein: Geh zu ihm, sprich ihn an. Sag ihm, dass er dir das Leben zur Hölle machte. Meines. Und das meiner damaligen Partnerin und heutigen guten Freundin: Noch immer vereint durch die bittere Erfahrung der dunklen Zeit – nicht alleine deswegen, aber sicher auch. Sag ihm, dass du ihn hasst. Hasse ich ihn eigentlich? Keine Ahnung. Abscheu empfinde ich aber sicher.

Wie würde er reagieren? Was, wenn er sich entschuldigt? Muss ich dann auf ihn zugehen? Ihm verzeihen? Gebietet das meine christliche Sozialisierung nicht? Verzeihen als Grundrecht? Und wie reagiere ich, wenn er mir mitteilt, dass er alles richtig gemacht habe und ich ein Egoist gewesen sei? Lieber das, als die Bitte um Verzeihung, dachte ich mir. Ich will nicht den Hauch von Sympathie für meinen Häscher empfinden.

Als ich um die Ecke bog, war jener Ulrich Montgomery verschwunden. Ich schaute die Straße hoch: Nichts. Wie vom Erdboden verschluckt. Vermutlich saß er wieder in seiner Wohnung, irgendwo über meinen Kopf. Nicht wissend, was sich da gerade um seine Person in mir abgespielt hat. Und er macht einfach weiter, als sei nichts gewesen. Mir hingegen hängt diese flüchtige Begegnung nach. Aufarbeitung, dachte ich mir – es wird endlich Zeit.

Gastautor
Gastautorhttps://staging.neulandrebellen.de/
Der Inhalt dieser Veröffentlichung spiegelt nicht unbedingt die Meinung der neulandrebellen wider. Die Redaktion bedankt sich beim Gastautor für das Überlassen des Textes.

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