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Küsse und andere Menschheitsverbrechen

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2,2 Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut gefährdet – wenden wir uns aber lieber mal wichtigeren Themen zu: Küssenden Verbandsfunktionären. Ein Kommentar.

Die Armut darbt, offizielle Zahlen des Statistischen Bundesamtes weisen 2,2 Millionen Kinder in Deutschland in Armut oder zumindest an der Armutsschwelle aus. Die nicht ganz offizielle Realität sieht womöglich noch ärmlicher aus. Deutschland firmiert im EU-Vergleich auf Rang 20 von 28 Ländern, konkurriert mit Rumänien und Bulgarien – den Armenhäusern des organisierten Kontinents – um die rote Laterne.

Zeitgleich schießen wir sondervermögend unglaubliche Gelder in die Rüstung – mit Option, noch mehr Sondervermögen zu schaffen. Der ukrainische Präsident bekommt Material und Waffen, wir lassen ihn diesen völlig verrückten Krieg, der unzählige Verstümmelte und Tote schafft, immer weiterführen, verweigern den Verhandlungstisch. Der russische Präsident firmiert indes nur noch als der Leibhaftige, sodass ein Gespräch sofort ausgeschlossen ist und bleibt.

Nur zwei Themen, die wirklich keinerlei Bedeutung haben sollten. Nicht in einer Welt, in der Verbandsfunktionäre küssen. Es küsst eben doch der Faschist, wo er uns trifft – oder so ähnlich.

Von der Empörung geküsst

Seit Tagen lesen wir von diesem spanischen Funktionär, Luis Rubiales mit Namen. Vorher hat noch nie jemand von diesem Kerl gehört. Heute kennen sie ihn alle. Vom Spiegel bis zur Frankfurter Allgemeinen, von der taz bis zum ARD – ja, selbst der vermeintlich nüchterne Kicker weiß in einem Kommentar zu konkretisieren, dass so ein »Verhalten ein Skandal« sei. Der Spiegel wirft dem DFB dröhnendes Schweigen vor, watscht nebenher noch Rummenigge ab, der nicht sofort skandalisiert hat.

Die ganz großen Fragen hängen sich an Kussigate auf, die Stellung der Frau in der Gesellschaft wird zum Thema. Männer könnten jederzeit Frauen abküssen, sie seien weiterhin Patriarchen und die Welt sei noch immer nicht besser.

Ja, doch, es gibt Frauen, die eine Bürde tragen. In vielen Teilen der Welt. Aber bleiben wir mal hier, denn wozu in die Ferne schweifen, liegt das Schlechte doch so nah. Nehmen wir Alleinerziehende, nehmen wir mal prekär beschäftigte Frauen: Wie sieht es da aus mit Grundsatzdebatten über die Stellung mancher Frau in unserer Gesellschaft?

Die Stimmen der Empörung übersteigern sich im Tagestakt. Immer noch jemand wird von der Muse der Überdrehung geküsst, setzt einen drauf, weiß Neues über das Patriarchat zu berichten. Dabei hat der Mann das nicht mal heimlich und verstohlen in seinem Büro gemacht, sondern vor den Augen der frauenfußballschauenden Weltöffentlichkeit. Muss man die Spielerin, die davon betroffen war, jetzt als nächstes Opfer männlicher Toxizität einordnen? Muss es noch eine Spur größer und noch dramatischer sein?

Rubiales- und Judasküsse

Man könnte wirklich annehmen, dass die Menschheit es geschafft hat. Sie spricht über Küsse des Überschwanges, die einem nicht gefallen müssen, aber eben auch kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Es sieht fast so aus, als habe es die menschliche Familie geschafft, wenn die ganz harten Themen jetzt Küsse sind – und nicht mehr Gewalt, nicht mehr Armut und Ausbeutung.

Der Neoliberalismus war stets als klassenlose Ideologie ausgelegt. Er leugnete Klassengegensätze und damit auch den Klassenkampf. Das war Teil des Konzepts, denn wenn Unternehmensinteressen als die Belange der Werktätigen dargestellt werden konnten, minimierte das die kritische Betrachtung und simulierte eine Einheitsfront – im Grunde könnte man hier auch von einer Querfront sprechen. Mit Eintritt in den progressiven Neoliberalismus, der sich nach der Finanzkrise etablierte – als eine Art Moralwäsche und Ethiketikettierung –, blühte diese »Klassenlosigkeit« mehr und mehr auf. Man tat so, als seien die wesentlichen Menschheitsfragen endgültig geklärt.

Daher fehlte auch der Fokus auf die soziale Frage und auf die Umverteilung. Sie gilt quasi als erledigt, konnte erfolgreich ad acta gelegt werden, nach Vorstellung derer, die dieser Ideologie nacheifern. Der Wokismus fühlt sich in so einem Klima der Klassenlosigkeit pudelwohl, denn über die Frage des Geldes macht er sich gewollt keine Gedanken. Er setzt andere Schwerpunkte – manche mögen ja gut gemeint sein, sind aber ein Beitrag zur Verschlechterung der Welt und zur Spaltung. Statt Gleichheit wird Unterschiedlichkeit aggressiv überbetont und am Ende sprechen wir über Küsse, wo man über ökonomische Vergewaltigung sprechen müsste.

Während es in diesem Land bergab geht, während an der Peripherie Europas eine Hölle befeuert wird, die so nicht sein müsste, platziert das Agenda Setting eine ausufernde Berichterstattung eines spanischen Verbandsfunktionärs ganz oben. Und diese Schwerpunktsetzung soll nicht der Ablenkung dienen? Der einzige Kuss, der hier wirklich von Relevanz ist, ist der Judaskuss der vermeintlichen Progressiven – der Verrat an denen, die wirkliche Probleme haben.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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