13.8 C
Hamburg

30 Jahre später

Published:

Genau heute vor 30 Jahren begann ich meine Lehre zum Schlosser. Das sind doch nur 30 Jahre – wieso liegen da Welten, ja ganze Kosmen dazwischen?

Heute vor 30 Jahren, vermutlich genau jetzt um diese Uhrzeit der Veröffentlichung dieser Zeilen, ging es los: Mein Leben als Erwachsener. Das heißt, ich war noch immer minderjährig, aber es geschah das, was man mir seit Jahren prophezeit hatte: Der Ernst des Lebens. Diesen Satz hatte ich bis dahin bereits so oft gehört, dass er mir zum Hals raushing – und jetzt fühlte es sich an wie eine Hinrichtung. Ich trat meine Ausbildungsstelle an. Als Schlosser, damals schon Industriemechaniker genannt.

Langsam wurden wir modern, Begriffe verschwanden, technokratische Wortungetüme hielten Einzug in unser aller Leben. Der Ausbilder, der uns Neulinge am Haupttor der einst großen, jetzt im Niedergang befindlichen Firma einsammelte, spöttelte über diese neue Berufsbezeichnung. Verrückte Zeiten, befanden er und seine Ausbilderkollegen. Heute weiß ich, was er meinte. Ihm ging die Welt verloren. Aber solange Schlosser nur Industriemechaniker waren, übrigens Fachrichtung Maschinen-/Systemtechnik, war die Welt noch nicht ganz aus der Spur geraten. Wir ahnten ja alle nicht, was noch kommen sollte. Und wir ahnten freilich auch nicht, dass es dieses Haupttor und all die Werkshallen, 30 Jahre später nicht mehr geben würde. Heute entstehen dort Wohnquartiere – nur das Turm, einst Wahrzeichen des Unternehmens, soll ins Quartier integriert werden. Wenn ich heute daran vorbeifahre, selten genug bin ich in Ingolstadt, sticht es mir ins Herz.

In der Sackgasse

Man erlaube mir, mich für den Moment wie ein alter Mann zu fühlen. 30 Jahre – und ich erinnere mich noch, als sei es vorherigen Herbst gewesen. Man nahm uns in Empfang, viele Jungs, einige Mädchen, auf die wir alle besonders achteten. Klar, es war wie gesagt eine Hinrichtung, der Lebensernst, den man mir seit geraumer Zeit androhte, meist mit gravitätischer Miene, die wohl zum Ausdruck bringen sollte: Aus, vorbei, ab jetzt wird rangeschafft, les jeux sont faits – aber trotz Gang auf das Schafott: Es gab hier auch Weibliches, Hüftschwünge und rote Lippen, es gab also die Aussicht auf Ablenkung.

Man teilte Latzhosen aus, dunkelblau und starrem Material. Diese Dinger zu tragen war vom ersten Augenblick an zum Kotzen. Dann gab es Belehrungen, Vorstellungen, der Sicherheitschef der Firma erteilte uns einen Vortrag. Er siezte uns. Wusste er denn nicht, dass er vor Kindern sprach? Klar, wir waren Jugendliche, keiner volljährig, alle taten wir schrecklich reif und erwachsen, wir taten, als hätten wir die Welt gesehen und simulierten den vollen Durchblick. Nach außen jedenfalls. In unserem Innersten war klar, dass wir dieselben Bengel und Gören waren, die vor sieben, acht, neun Jahren noch knapp am Hosenschiss vorbeischrammten. Was war es anstrengend, sich so verstellen zu müssen und gleichzeitig so unsicher zu sein! Nochmal Teenager sein? Bloß nicht!

Säßen wir heute da, wie viele wären wohl trans? Würden den ersten Bartflaum mit einem Röckchen ergänzen? Omas Perlenkette auftragen und die Latzhose als Angriff auf ihre Mannsweiblichkeit diffamieren? Wie unaufgeklärt wir heute in der Retrospektive wirken. Was wussten wir schon? Die Welt stand uns offen, das hat man uns vermittelt. Jedenfalls in jenen Momenten, da man uns nicht mit dem Ernst des Lebens triezte. Alles sei möglich, simulierten Medien und Werbung. Was wir nicht wussten: In dem Moment, da wir die Werkstatt betraten, saßen viele von uns schon in einer Sackgasse. Und dass die Welt sich zu einem Irrenhaus auswachsen würde, sahen wir tatsächlich noch nicht auf uns zukommen.

Der uns siezende Sicherheitschef wirkte streng, buschige Augenbrauen, weißer Kittel, ein Krawattenknoten wie ein Geschwür. Er hatte den Humor von Klaus Kinski, sein graues Haar ließ ihn uns unendlich alt erscheinen. Er sagte, wir müssten auf unsere Gesundheit, unseren Körper achten. Mützen beim Bohren tragen, damit wir uns nicht skalpieren, Handschuhe beim Bleche zurichten benutzen, weil wir uns sonst die Fingerkuppen köpfen, all sowas halt. Wir hätten nämlich nur unsere Arbeitskraft anzubieten, sonst hätten wir in dieser Welt nichts. Der Mann wusste ganz offenbar: Wer hier saß, war mit dem Plastiklöffel im Mund zur Welt gekommen.

Staplerfahrer Klaus

Jahre später begegnete er mir abermals, da war er schon in Pension, wollte aber noch nützlich sein. Ich war arbeitslos, wollte mich sukzessive als Schreibender selbstständig machen. Die Sachbearbeiterin des Arbeitsamtes, das sich jetzt Jobcenter nannte, war schrecklich von diesen Plänen genervt. Das sei doch nichts, keine Arbeit, davon könne man nicht leben. Von den Jobs bei Leiharbeitgebern, die man mir zuschanzte, allerdings auch nicht. Einmal sollte ich vier Wochen bei einem Hydraulik-Hersteller umsonst auf Probe arbeiten. Schwere Teile wuchten, mir den Rücken krumm machen. Nach vier Wochen wollte der Chef entscheiden. Nicht mal Sicherheitsschuhe stellte er mir, ich sollte sie mir selbst kaufen. Dazu kam es nicht mehr, ich wurde überraschend nach nur einem Arbeitstag krank. Bei meiner telefonischen Krankmeldung ließ er mich wissen, dass er solche wie mich nicht brauche. Andersherum galt allerdings dasselbe.

Einen ganzen Tag habe ich dort geschuftet. Ich dachte an den Sicherheitschef, wie er uns mit auf den Weg gab, dass wir nichts als unsere Arbeitskraft hätten, die wir zu Markte tragen könnten. Das Problem war in jenen Reformerjahren nur, dass keiner am Markt meine Arbeitskraft bezahlen wollte.

Ich habe ihm diese Episode in meiner Erinnerung sogar erzählt, als er mich im Auftrag des Jobcenters zu meiner Selbstständigkeit beriet. Seinen gestärkten Kittel hatte er abgelegt. Das Geschwür am Hals war noch dran, selbst in seinem heimischen Wohnzimmer. Denn dorthin lud er mich ein. Seine Frau trug Kaffee auf, hier war noch alles geordnet, hier wussten sich die Geschlechter noch ein- und unterzuordnen. Er behauptete, er erinnere sich an mich. Ich tat entzückt. Dann guckte er sich einige Papiere von mir an, Business-Plan genannt: Einen Plan hatte ich freilich nicht. Er würfelte Zahlen zusammen, fiktive Honorare. Er nickte, gab mir seinen Segen. Der Mann hatte nichts als seine Arbeitskraft feilzubieten: Und das Jobcenter kaufte sie ihm gerne ab.

Aber an jenem 1. September 1993 lag das noch weit in der Zukunft. Der Sicherheitschef erklärte uns, dass wir im Kinosaal einen Sicherheitsfilm gucken würden. Er lief an, »Staplerfahrer Klaus« nannte er sich. Das konnte ja was werden. Wurde es aber tatsächlich. Der Kurzfilm war zum Schießen, ein richtiger Splatterfilm, Blut spritzte, Extremitäten flogen durch die Luft. Einer verlor Arme und Beine und versuchte noch zu malochen: Hier ist der Film zu sehen, wärmste Empfehlung meinerseits. Der Sicherheitschef war nicht zugegen, als wir den Streifen guckten, vermutlich saß er im Keller und verkniff sich selbst da das Lachen.

Der Ernst des Lebens kam sechs Jahre später

Meine Erinnerung sagt mir, dass wir am selben Tag an die Werkbank mussten. Vielleicht war das aber auch erst einen Tag später. Ich war ohnehin total übermüdet; um sieben Uhr auf der Matte zu stehen, schien mir brutale Schikane zu sein. Was wusste ich schon? Später arbeitete ich nachts durch oder musste um Fünf anwesend sein. Was man für Geld alles tut. An der Werkbank gab es für uns exakt ein Werkzeug. Und das für die nächsten zwei Monate. Eine Feile. Das heißt, es waren mehrere Feilen. Wesentlich waren Schrupp- und Schlichtfeile. Keine war geeignet, um meine zarten Hände zu schonen. Wir trugen das Metall eines U-Stahlstückes ab, sollten es eben bearbeiten und rechtwinklig sowieso. Dazu drückte man uns einen Messwinkel in die Hand. Vom ersten Augenblick an habe ich es gehasst. Gefeilt habe ich danach nie wieder.

Ich sehe die Gesichter noch neben mir. Unsere Werkbank war ein Sechseck. Galeerensklaven haben sicher nie vergessen, wie ihr Neben-, Vorder- und Hintermann aussah. Bei uns war es ähnlich. Da waren welche dabei, die vom ersten Tag an auf Notenjagd waren, sich anbiederten und fleißig, strebsam und ordentlich auftraten. Wie wenig Rückgrat konnte man eigentlich haben? Da gefiel mir der fette Ausbilder in seinem Kabuff zehn Meter weiter schon besser. Er wartete auf den Ruhestand und blätterte den ganzen Tag in Zeitschriften.

Heute vor 30 Jahren, das war durchaus eine Zäsur. Der Ernst des Lebens war es nicht, das waren nur die doofen Sprüche meiner Alten. Noch war es nicht ernst, wir ließen viel auf uns kommen in der Zeit, schwänzten Unterricht, wir hantierten mit Schusswaffen herum, die einer mit in die Berufsschule brachte. Aber es geschah nichts. Man wusste, dass wir jungen Leute einen an der Waffel haben. Und man akzeptierte, dass das dazugehörte. Wie schwierig man es sich heute mit der Jugend macht. Ja, doch, ich glaube wir hatten es in der Beziehung leichter. Politisch instrumentalisiert hat man uns ohnehin nicht, die Spaßgesellschaft brach herauf, da gab es andere Prioritäten. Man bumste und soff. Wir noch nicht, aber wir dachten, dass es so kommen würde, wenn wir erstmal ins zweite Lebensjahrzehnt gehen würden. Aber dann war der Spaß vorbei.

Der Ernst des Lebens fing viel später bei mir an, sechs Jahre danach genau gesagt. Da starb mein Vater. Zu früh, er war 62 Jahre alt. Stand noch im Berufsleben. Man drückte ihm Nachtschichten auf, die er hätte ablehnen können. Aber der gute Gastarbeiter hatte gelernt zuzugreifen, Arbeit als Chance zu sehen. Wenn ich heute so kritisch mit Menschen umgehe, die ins Land kommen und nicht arbeiten, hat das diesen Grund: Mein Vater arbeitete und er arbeitete und er arbeitete – und er erarbeitete sich auch die Sprache alleine. Er arbeitete immer, ständig und noch kurz vor seinem Ruhestand. Den wollte er teilweise in seiner spanischen, seiner baskischen Heimat zubringen. Er hat es nur auf den Ingolstädter Friedhof geschafft. So ist das Leben – so ist der Tod.

In Werkshallen

Als ich mich neulich abends nach einigen Flaschen Bier am Main auf den Heimweg machte, ging ich an einem Werksgelände vorbei. Der Geruch, der sich dort einstellte, erinnerte mich sofort wieder an jene Zeit, da der vermeintliche Ernst des Lebens anstand. Der Hallengeruch metallverarbeitender Betriebe, eine Mischung aus metallischer Schärfe, Kühlemulsionen und Ölen. Manche nennen es Gestank, und auch wenn ich mich damit nicht einreiben würde, ist es für mich durchaus eine Art von Wohlgeruch, der mich an eine andere Zeit erinnert.

Es war damals eine dreckige Welt, in die ich eintrat, eine teils gefährliche. Man riss sich die Finger auf, verblitzte sich beim Schweißen die Augen, verbrannte sich mal hier, mal dort. Es hielt sich freilich in Grenzen. Überall roch es, die Werkshallen waren ziemlich alt und heruntergekommen, hier hatten schon hundert Jahre vorher Menschen gestanden, gearbeitet, geschwitzt, Sorgen gehabt. Wir tranken Instant-Kakao in der Automatenstation, unterhielten uns mit Arbeitern, die uns fürsorglich behandelten, nicht selten aber fünf, sechs, sieben Bier intus hatten. Überhaupt tummelten sich dort viele, die es mit dem Bier hielten. Und mit dem Schnaps. Verboten war der Alkoholkonsum am Arbeitsplatz nicht. Man sah darüber hinweg. Nur wir Azubis durften nicht trinken. Da lernten wir: Die Welt ist nicht immer gerecht.

30 Jahre später frage ich mich, wo diese Welt hin ist. Die Einfachheit werktätiger Menschen? Wer sagt heute noch voller Stolz, er absolviere eine Lehre als Schlosser? Das laut ausgesprochen – und man gilt recht schnell als Verlierer. Heute wird studiert, jeder hat Kinder, die studieren. Arbeitet noch einer?

In Serien haben Menschen heute saubere Jobs in Büros; in Filmen behandelt man die Sorgen von Leuten, die Influencer sind oder Ärzte oder Anwälte. Menschen, die sich die Hände beschmutzen, kommen vielleicht mal in einer Nebenrolle vor. Als lästige Dienstleister zum Beispiel, die nicht zuverlässig arbeiten oder Termine nicht einhalten. Im Radio wünschen Moderatoren den Zuhörern einen guten Morgen auf ihrem Weg ins Büro. Denen, die sich auf ihren Weg in Werkshallen machen, gilt kein freundlicher Morgengruß. Wissen sie, dass es solche Menschen noch gibt? Damals vor 30 Jahren trat ich meine Ausbildung an und bekam ein Gespür dafür, wie es ist, jeden Tage dasselbe zu tun, sich Stunden die Beine in den Bauch zu stehen, Gerüche zu ertragen, dreckig zu werden. Das alles hat mich geprägt. Am Ende war es wohl doch der Ernst des Lebens, der mich genau heute vor drei Jahrzehnten ereilte. Denn seither weiß ich, egal was ich mache, auch jetzt, sauber an meinem Schreibtisch, ich bleibe ein Arbeiterkind, ein Proletarier.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

Related articles

spot_img

Recent articles

spot_img