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Armes Deutschland!

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Es ist noch nicht alles verloren, denn Deutschland generiert noch Wachstumsmärkte. Der Sektor, der wächst wie kein anderer – ist die Armut. Sie wird täglich augenfälliger in den Städten.

Dieser Tage las man viel über Penny. Die Aktion mit den grüngewaschenen Preisschildern, die einen vermeintlich realistischen Preis abbildeten, fanden etliche wirklich ausgezeichnet. Aber offenbar nicht so viele, dass man bei Penny einfach einen Kunden finden konnte, der großzügig ein Lob aussprach. Also fragte man jemanden, bei dem man sicher sein konnte, weil er denselben Stallgeruch hat: Eine Kollegin, jemanden vom WDR. Schade ist, dass dieses Team nicht mal zu jenem Penny kommt, bei dem ich gelegentlich einkaufe – oder besser noch bei dem Rewe, den ich besuche.

Vor beiden Läden tummelt sich etwas, was gerne geleugnet wird: Armut. Bei Penny sind es eher jüngere Habenichtse, die sich billigen Wein kaufen und Fertigfrikadellen aus der Plastikpackung essen. Es gab immer Gestalten vor jenem Markt, schon bevor die Sanktionen gegen Russland dazu führten, dass Deutschland bestraft wird. In den letzten Monaten sind es jedoch mehr geworden. Vor dem Rewe gab es vormals gelegentlich organisierte Zigeuenerbettelei – jetzt sieht man bettelnde Rentner, die die Hand aufhalten, wenn man an ihnen vorübergeht.

Das beste Deutschland aller Zeiten

Man könnte nun einwenden, dass das kein Beweis für etwas ist, weil es nur auf subjektive Wahrnehmung gründet. Das trifft freilich auch zu. Aber was, wenn sich die Armut so augenfällig aufdrängt? Darf man dann keine Rückschlüsse ziehen? Soll man bloß jenen Statistiken trauen, die andere für uns fälschen und die man uns zur Entkräftung und Beruhigung vorlegt?

Neulich ging ich fremd: Ein anderer Stadtteil, ein anderer Supermarkt. Das Szenario glich dem in meinem Kiez. Vor dem Laden wurde gebettelt, auch hier ein Alter im Rollstuhl. Eine Passantin bot ihm Obst an, er nahm dankend an, stellte aber klar, dass er Äpfel nicht akzeptieren würde, denn die könne er nicht beißen. In einem der reichsten Länder dieses Erdenrundes sitzt jemand, der eine Obstspende nötig hat – und der gewisses Obst noch nicht mal verzehren kann. Sich die Zähne richten zu lassen, auch das ist seit vielen Jahren in diesem Lande keine Selbstverständlichkeit mehr.

Wenn ich aus meinem Arbeitszimmer aus dem Fenster blicke, sehe ich einen am Laternenpfahl angebrachten Mülleimer. Öfter denn je wird der nun durchforstet. Nicht mehr von irgendwelchen traurigen Schatten, die Pfandflaschen für den nächsten Schuss benötigen, sondern von alten Menschen, deren Kleidung verrät: Dieses Stadium der Armut haben sie erst neulich betreten. Neuland eben – welch ein trauriges Territorium, dass sie jetzt noch erschließen müssen.

Bestimmte B-Ebenen in Frankfurt sind kaum noch erträglich; wenn es beispielsweise am Eschenheimer Turm dunkel wird, man hinabsteigen möchte in die Katakomben städtischer Mobilität, in die dortige U-Bahn-Station, sieht man sich mit endlosen Bettenlagern konfrontiert. Die Menschen dort wirken nicht so, als sei die Armut etwas, mit dem sie gerade erst in Kontakt kamen. Noch sieht man dort keine Neuarmen, keine Rentner. Aber ist es nicht eine Frage der Zeit? Muss man nicht damit rechnen, dass die Abwärtsbewegung noch mehr erfasst? Menschen, die ihr Leben lang arbeiteten, Steuern zahlten, erwischt es die nicht demnächst? Und wo ist die Empörung?

Der Skandal, der keiner sein darf

Sicher, gegen Armut ist auch diese Bundesregierung – so vom Gefühl her. Sie hat sich den Respekt auf die Fahne geschrieben. Sie sagte nur nicht, wem sie den Respekt entgegenbringt. Den Alten, denen es jetzt eng wird, ganz sicher nicht. Als in einem Bürgerdialog – ja, ich weiß, ein Fake von Mainstreams Gnaden – ein Rentner nachfragte, ob auch die Alten in den Genuss einer Einmalzahlung kommen würden, lachte der Bundeskanzler herzlich. Lachte herzlich – und kriegte sich nicht mehr ein. Das kommt öfter vor bei ihm.

Für einen Mann, der im Kanzleramt sitzt, weil sein Konkurrent so unvorsichtig war, sich im Hochwassergebiet beim Lachen ablichten zu lassen, ganz schön gewagt. Wo waren da die Berufsbetroffenen, die damals noch aufschrien, als im Ahrtal einer lachte? Ist es witziger, wenn ein Kanzler einen Rentner auslacht, der nach staatlicher Hilfe fragt? Und das in einem Klima, das diese Bundesregierung mit ihrer ideologischen Außenpolitik zu verantworten hat?

Nein, die Armut, die um sich greift, wird marginalisiert. Sie ist der himmelschreiende Skandal unserer Zeit, für viele normal arbeitende Menschen wird das Leben mehr und mehr zu einer Angelegenheit, die sie nicht mehr finanzieren können. Geschweige denn die, die nicht (mehr) arbeiten – die sehen den Abgrund schon, sind sogar schon herabgefallen. Simuliert wird im politisch-medialen Komplex jedoch, dass alles Machbare getan wird. Die Bundesregierung ist für alle da. Wer es anders sieht, wem diese »Wahrheit« widerstrebt, delegitimiert den Staat und lebt gefährlich.

Angetreten war man, die bleiernen Jahre zu beenden, die Angela Merkel und ihre die Armut fördernde Politik über das Land legte. Alles sollte anders, sollte gerechter werden. Wer den Versprechungen glaubte, dem war nicht zu helfen. Denn der heutige Respektskanzler war Vizekanzler der Unabkömmlichen im Hosenanzug, ein Großkoalitionär vor der Herrin. Er war ein Stück Sozialabbau, schon in den Jahren Schröders rechtfertigte er als Generalsekret seiner Partei die Agenda 2010 und die Verschlechterung der Lebensumstände im Lande. Wenn er, dieser Olaf Scholz, dann auf Bürger trifft, so wie im Bezahlstaatsfernsehen beim Bürgerdialog, dann wurde eine feine Vorauswahl getroffen – kein Rentner im Rollstuhl ist dann zu sehen. Wahrscheinlich dachte der Kanzler an diese Selektion, als er nach der Frage des rüstigen Rentners loslachte. Vor Erleichterung nämlich, sich nicht der Wirklichkeit stellen zu müssen.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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