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Fremdheitserfahrung

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Vor der Aufnahme eines Podcasts, plauschten Tom und ich ein bisschen über dies und das. Ein Thema, das wir kurz angerissen haben, war, wie es mir in Russland geht. Mit geht es gut, sagte ich. Es ist Frühling, die Temperaturen sind angenehm. Ich mache hier keine Fremdheitserfahrung, fügte ich hinzu. Nach dem Gespräch fiel mir erst die Bedeutung des Satzes auf. Ich fühle mich hier nicht fremd. Ich fühle mich hier zu Hause. Manchmal verstehe ich etwas nicht so ganz, manchmal drücke ich mich falsch aus, aber fremd fühle ich mich deswegen nicht. 

Das ist tatsächlich so. Ich bin jetzt fast ein Jahr in Russland, wohne in Moskau. Bisher blieb der Kulturschock aus, ich verspüre keinerlei Heimweh. Ich fühle mich sogar besser als in Deutschland. Es ist hier freier. Das mag erstaunen, denn Russland gilt im Westen nicht unbedingt als Hort der Freiheit. Gerade in Deutschland blickt man sehr auf Russland hinab, wähnt sich dagegen selbst als Speerspitze der Demokratie und als liberalste unter den liberalen Gesellschaften. Ich kann versichern, dem ist nicht so.

Eine wichtige Veränderung, die ich an mir selbst festgestellt habe, ist: Ich checke die Leute nicht mehr ab, bevor ich mich zu einem Thema äußere. In Deutschland habe ich das in den letzten Jahren immer getan. Spätestens mit Corona wurden Gespräche schwierig. Schnell geriet man wegen unterschiedlicher Auffassungen aneinander. Die Positionen waren hart, Kompromisse und einfach Gelassen-sein unmöglich. Dort, wo ich in Berlin gearbeitet habe, galt die Regel: Wir diskutieren nicht über die verordneten Corona-Maßnahmen, wir setzen sie nur um. Eine recht repressive Atmosphäre, die man so vermutlich eher in totalitären Regimen erwartet. Wir führen nur Befehle aus, kommentieren sie nicht.

Das Abchecken fällt weg

Ich checke hier nicht ab, ich äußere einfach, was mir zu sagen wichtig ist. Man ist nicht immer einer Meinung. Gerade auch, was den Krieg in der Ukraine angeht. Manche hätten sich mehr Diplomatie gewünscht, manche halten den Krieg für grundlegend falsch, manche vertreten hier die Meinung, man hätte gleich 2014 draufhauen sollen. Es gelingt Russen aber deutlich besser als Deutschen, eine andere Meinung einfach stehen zu lassen. Deutsche haben dagegen den Hang zum Totalitarismus und Autoritarismus. Das fängt tatsächlich bereits auf der individuellen Ebene an.

Ich bin glücklich über meinen Umzug. Manchmal habe ich unangenehme Träume. Ich träume, ich sei zurück in Deutschland und muss mich verstecken. Das ist kein Witz. Ich habe diese Träume tatsächlich recht regelmäßig. Wenn ich dann aus dem Traum hochschrecke, bin ich froh, dass ich in Russland bin. Diese Träume sind für mich Anzeichen dafür, dass der Umzug gut und die Zeit in Deutschland eine psychische Belastung war. Deutschland ist ein sehr repressives, unfreies Land. Es macht krank. Passt auf euch auf.

Mir wird immer wieder vorgeworfen, ich würde die Deutschen als Ganzes verurteilen. Das tue ich nicht. Ich weiß, es gibt ganz viele Deutsche, die ähnlich denken, die die Freiheit in Deutschland in ähnlicher Weise bedroht sehen, wie ich das tue, die ebenso ihr Gegenüber abchecken, bevor sie ihre Meinung äußern, die sich ebenso unter Druck und isoliert fühlen. Genau das ist, was ich aus Deutschland als bleibenden Eindruck mitgenommen habe: dieses Gefühl der Repression und Unfreiheit. Deutschland als gesellschaftliche Entität ist auf einem falschen Weg. Deutschland macht unfrei. Ich habe es selbst erlebt und viele von euch erleben das auch.

Wir führen nur Befehle aus

Natürlich erlebt man diese Unfreiheit, diese Enge und das Repressive nur dann, wenn man nicht die Meinung des Mainstreams teilt. Wenn man die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona für überzogen hielt, wenn man meint, Waffenlieferungen retten kein Leben, sondern bringen den Tod, dann merkt man die Unfreiheit und die geistige Enge Deutschlands.

Die Kollegen auf meiner alten Arbeitsstätte, die all die Maßnahmen für sinnvoll hielten, die bemerkten natürlich nichts von der Repression. Sie konnten sich offen und frei äußern, sich über Covidioten und Corona-Leugner auslassen und damit ihren Beitrag zur repressiven Atmosphäre leisten. Sie mussten nicht fürchten gemaßregelt zu werden. Die anderen schon.

Das gilt auch für den aktuellen Konflikt. Wer meint, Waffenlieferungen würden der Ukraine in ihrem Kampf um staatliche Souveränität helfen und Russland müsse besiegt werden, merkt nichts vom repressiven Klima. Das ist die Glückseligkeit des Mitläufertums. Man ist an der Macht. Das Repressive wird erst dann erlebbar und fühlbar, wenn man sich aus diesem Korridor hinaus begibt. Dann wird es aber sehr schnell sehr brutal.

Im letzten Jahr wurde auch das Strafgesetz verschärft. Mir ist klar, mit meiner Meinung brauche ich mich in Deutschland nicht mehr sehen lassen. Auf meine Meinung steht Knast. Es gibt Leute, die würden mich dort gern sehen. Sie teilen es mir über die sozialen Netzwerke mit. Die Repression fühlen sie nicht. Sie glaube nach wie vor, in Deutschland sei man freier als in Russland. Dass es gerade sie sind, die Deutschland unfrei machen, ist ihnen nicht bewusst. Sie glauben, auf der richtigen Seite zu stehen und vertreten dies mit einem Totalitarismus, den man in dieser Konsequenz nur aus Deutschland kennt.

Ich jedenfalls bin froh, nicht mehr in Deutschland zu leben. Es ist freier hier in Russland – unbeschwerter. Ich mache hier keine Fremdheitserfahrung, aber Deutschland ist mir in den letzten Jahren immer fremder geworden. Ich möchte daher nicht zurück.

Gert-Ewen Ungar
Gert-Ewen Ungar
Gert Ewen Ungar legte sich kurz nach dem Abi sein Anagramm zu. Er und seine Freunde versprachen sich damals bei einem Kasten Bier, ihre Anagramme immer für kreative Arbeiten zu verwenden. Dass sein Anagramm jemals mehr als zehn Leuten bekannt werden würde, war damals nicht abzusehen und überrascht ihn noch heute. Das es dazu kam, lag an seinem Blog logon-echon.com. Mit seinen Berichten über seine Reisen nach Russland stiegen die Zugriffszahlen und es entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit RT DE. Anfang 2022 stieß er zu den neulandrebellen und berichtet über Russland, über Politik, über alles Mögliche.

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