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Analog unterwegs in der Schweiz

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Zürich ist eine Reise wert. Der Rheinfall auch. Aber nur, wenn man digital ausgerüstet ist. Wie Goethe ohne Internet diese Reiseziele überlebte, ist heute schwer vorstellbar.

Ein Gastbeitrag von Mathilde van der Linden.

»Was ist das?«, fragte mein Kumpel. Er kommt aus China und heißt eigentlich 皓宇 mit Vornamen. Weil das aber fast niemand hier richtig aussprechen kann, lässt er sich in Europa Peter rufen.

»Eine Banknote«, antwortete ich. Wir stehen in einem Laden am Bahnhof von Zürich, wo ich gerade angekommen bin.

»Wo hast du die her?«, fragte er.

»Noch von meinem letzten Sommerurlaub hier in der Schweiz.«

»Ich wohne hier seit September und ich habe seitdem nur mit meinem Handy bezahlt. Was für eine Antiquität«, sagte er, während er die Banknote aus meiner Hand nahm und genauer prüfte.

»Ich zahle fast immer bar. Bargeld ist Freiheit.«

»Ja, Mutti«, erwiderte Peter – und ich rollte mit den Augen.

»Du weißt doch, dass du so alt wie meine Mutter bist?«

»Du hast es mir so oft erzählt, dass ich inzwischen vermute, dass sie und ich sogar denselben Geburtstag haben.«

Digitale Naturverbundenheit

Peter ließ mich im Laden mit der Banknote zahlen, aber am Fahrkarten-Automat guckte er meine Münzen angewidert an und zahlte meine Fahrkarte für die Straßenbahn mit seinem Handy. »Auf meinem Handy habe ich auch mein Abo für die Öffis. So bequem«, sagte er. Er hat das Handy ständig in der Hand. Nur wenn er eine Zigarette anzündet, steckt er es kurz weg.

Als er noch in Aachen wohnte, spielte er mit anderen Chinesen dort ein Game, wobei jeder seine eigene digitale Insel auf dem Handy hatte. Peter war auf seiner Insel sehr tüchtig; züchtete Tiere, kochte, buk Kuchen und tauschte seine Kreationen gegen die Produkte der anderen Inseln. In der analogen Realität hasst er es aber zu kochen. Er ließ sich impfen, damit er die chinesischen Restaurants in Aachen weiter ohne Probleme besuchen konnte.

Bei meinem letzten Besuch in Aachen, als 2G wieder vorbei war, haben wir dort sein Lieblingsrestaurant besucht. Das Essen war nicht schlecht, aber auch nicht so gut, dass ich es als impfwürdig betrachten würde. Während des Essens klingelte der Alarm seines Handys übrigens ununterbrochen, weil einer seiner Freunde versuchte, die Hühner von seiner Insel zu klauen; und ein anderer Freund seine hausgemachten Kuchen.

Doogles: Ein Hundeleben bei Google

Peter arbeitet bei Google und an meinem zweiten Tag in Zürich besuchten wir zusammen ein Google-Gebäude in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs. Nichts an der Außenseite des Gebäudes lässt vermuten, dass Google dort einen Sitz hat. Drinnen gab Peter seinen Vornamen, 皓宇, und seinen Nachnamen auf einem Bildschirm ein. »Hier nennt man dich bei deinem echten Namen?«, fragte ich.

»Klar. Alle sind hier intelligent genug, um den richtig auszusprechen.« Ich weiß bis heute nicht, ob ich es beruhigend finde, dass bei Google nur kluge Köpfe arbeiten.

Ich trug auch die Angaben zu meiner Person ein und bekam ein Namenschildchen, womit es mir erlaubt war, mit 皓宇 durch das Gebäude zu stromern.

Er zeigte mir zuerst den Meditationsraum, den Schlafraum und den Spielraum mit den Flipperautomaten – tolle Räume die alle menschenleer waren, bevor wir in eines der Betriebsrestaurants gingen. Das Essen dort ist für die Mitarbeiter und ihre Gäste umsonst. Einige Mitarbeiter hatten ihre Partner und Kinder dabei. Und ein Mitarbeiter sogar seinen Hund. Peter erklärte mir, dass es im Gebäude Betreuungsangebote für Hunde gibt, die Doogles genannt werden (Dog + Google = Doogle). Ich kann mich nicht mehr richtig entsinnen, ob die Partner und Kinder der Google-Mitarbeiter Poogles und Koogles genannt werden, aber ausschließen kann ich es nicht. Für die Kinder gibt es auch Betreuung, für die Partner nicht.

Keine fünf Minuten ohne Internet

Ich fand den Besuch interessant, ich hätte selber gerne einen Schlafraum bei uns im Büro. Auf einen Meditationsraum kann ich verzichten.

Das Gebäude verließ ich mit einem hungrigen Gefühl. Die kulinarische Orientierung der Kantine war eher vegetarisch: Es gab nur ein Fleischgericht mit ganz wenig Fleisch pro Portion. Zu wenig jedenfalls, um mich durch den Rest des Tages schleppen zu können. Notgedrungen begebe ich mich im Zentrum von Zürich auf die Suche nach einer Currywurst mit Pommes.

Am nächsten Tag besuchte ich den Rheinfall. Ich hatte Peter gefragt, ob er mitkommen möchte, aber der sagte: »Ist doch nur Wasser?« Er wollte, dass ich eine schweizerische SIM-Karte anschaffe, damit ich in der Schweiz billig surfen konnte. Er hatte Angst, dass ich mich ohne mobile Internetverbindung verirren würde und ich es weder zum Rheinfall noch zurück nach Zürich schaffen würde.

»Ich brauche kein Internet«, sagte ich ihm.

»Ich kann keine fünf Minuten ohne Internet«, antwortete er.

»Ich kann doch immer jemanden fragen, wenn ich nicht weiß, wo ich bin. So haben wir es früher auch gemacht, als es noch kein Internet gab.«

»Erstens, brauchst du mich nicht daran erinnern, dass du so alt wie meine Mutter bist. Zweitens, man weiß nie, welche merkwürdigen Leute man unterwegs trifft. Und die willst du was fragen? Ich buche dir lieber eine Tour zum Rheinfall, damit nichts passieren kann.«

Der Rheinfall ein Reinfall?

Ich lehnte Peters Angebot ab, worauf er mir erzählte, dass der Rheinfall bei Google Reviews als weniger beeindruckend als die Niagara-Fälle beschrieben wird. »Ist den Aufwand nicht wert, aber gut, musst du selber wissen.«

Als ich den Rheinfall zum ersten Mal vom Zug aus sah, war ich so beeindruckt, wenn ich in dem Moment eine mobile Internetverbindung gehabt hätte, hätte ich Peter sofort eine Nachricht geschrieben mit der Meldung, dass Google Reviews sich irrt. Man glaube hingegen lieber dem Review von Goethe:

Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,

Ihn schau‘ ich an mit wachsendem Entzücken.

Von Sturz zu Stürzen wälzt er jetzt in tausend,

Dann abertausend Strömen sich ergießend,

Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.

Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,

Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,

Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,

Umher verbreitend duftig kühle Schauer.

Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.

Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:

Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.

Goethe bei Ikea

Am Rheinfall gibt es ein Schlösschen mit einem Restaurant. Ich befürchtete, dass es ein touristischer Reinfall wäre. Als ich aber an der Wand draußen auf einem Schild las, dass Goethe dort auch gegessen hat, war ich sofort überzeugt von der Qualität der Küche. Und tatsächlich kann man dort lecker essen und trinken! Entzückt, erfüllt und beschwipst kehrte ich nach Zürich zurück, wo ich Peter wieder traf, der ganz zufrieden mit seinem Ausflug zum örtlichen Ikea war. Dort hatte er Fisch gegessen (»Bestimmt billiger als der Fisch am Rheinfall!«) und eine Plastikpflanze gekauft. Als ich vorschlug, ihm Goethes Review vom Rheinfall vorzulesen, lehnte er ab mit den Worten: »Goethe lebte im falschen Zeitalter. Jetzt würde er bestimmt auch lieber Ikea besuchen als den Rheinfall.«

Klar!:

Freudvoll und leidvoll, gedankenvoll sein,

langen und bangen in schwebender Pein,

himmelhoch jauchzend zum Tode betrübt,

glücklich allein ist die Seele die liebt Ikea besucht.“

© Wolle und 皓宇

 

Mathilde van der Linden ist Buchhalterin aus den Niederlanden. Sie arbeitet und wohnt in Frankfurt am Main. Sie schreibt gelegentlich für die neulandrebellen.

Gastautor
Gastautorhttps://staging.neulandrebellen.de/
Der Inhalt dieser Veröffentlichung spiegelt nicht unbedingt die Meinung der neulandrebellen wider. Die Redaktion bedankt sich beim Gastautor für das Überlassen des Textes.

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