Sie haben kein Geld in der Tasche, Ihnen ist jeder Einkauf zu teuer und fahren trotzdem nicht in den Schwarzwald um Urlaub zu machen? Ja, wieso denn nicht? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?
Neulich zu Besuch bei Wellbrock nahe Hamburg. Redaktionssitzung, wenn man so will. Sich wieder mal sehen, sich herzen, sich betrinken – was alles zusammen nicht oft vorkommt, weil einer von uns es vorzieht am Arsch der Welt zu leben. Es sei ihm gegönnt. Ich quartierte mich die Straße hoch im Hotel ein. Frühstück inklusive. Ich bin gar kein großer Frühstücker, wollte aber mal zulangen, bezahlt ist schließlich bezahlt. Im Speiseraum lief der Fernseher, N24 berieselte die Gäste von oben herab. Wann hat das nochmal angefangen, immer und überall Nachrichten laufen zu lassen?
Daheim konsumiere ich diesen Unsinn nicht. Hier war ich dazu verdonnert, ich starrte kauend auf die Mattscheibe. Die Inflation im März, so hieß es, lag nur bei 7,4 Prozent. Im Vormonat war sie höher. Die Moderatorin sah selbstzufrieden drein. Oder war das ihr Verlegenheitsgesicht, das sich zwangsläufig bei dieser Think-positive-Berichterstattung einstellen musste? Unmittelbar danach eine neue Meldung: Die deutsche Tourismusbranche meldet, dass der Stand von vor Corona noch nicht erlangt sei. Dass der aber bald erreicht würde, schien in dieser Meldung mitzuschwingen und ausgemachte Sache zu sein.
Bewusstseinslöscher
Alles wird teurer, Menschen sparen, ein kleiner Einkauf zeitigt erstaunlich hohe Rechnungsbeträge: Und gleichzeitig zeigt sich das Nachrichtenformat irgendwie besorgt, dass der Tourismus im eigenen Land noch immer darbt, noch immer nicht so gute Zahlen vorweist, wie in den Jahren vor 2020. Damals war und lief schon vieles im Lande schief. Aber jetzt? Wie kann man zwei Nachrichten aneinanderkleben, die so widersprüchlich sind? Hätte die erste Meldung nicht die zweite Meldung erklärbar machen können?
Doch das hätte sie! Ganz bestimmt sogar. Mir kam Neil Postman in den Sinn. Der amerikanische Medienwissenschaftler hat in den Achtzigern ein Werk vorgelegt, das man heute zum Standardwerk früher Medienkritik zählen kann: »Wir amüsieren uns zu Tode« – noch immer kann man das Buch gut lesen, es hat nichts von seiner Schärfe verloren. Postman kritisiert darin die kurze Aufmerksamkeitsspanne, die der moderne Medienbetrieb – modern meint hier: vor etwa vierzig Jahren! – bei seinen Rezipienten erzeugt. Und er spricht von einem Phänomen, das er »Und jetzt …« nannte:
Mit »Und jetzt …« wird in den Nachrichtensendungen […] im Allgemeinen angezeigt, dass das, was man soeben gehört oder gesehen hat, keinerlei Relevanz für das besitzt, was man als nächstes hören oder sehen wird, und möglicherweise für alles, was man in Zukunft einmal hören oder sehen wird, auch nicht. Der Ausdruck »Und jetzt …« umfasst das Eingeständnis, dass die von den blitzschnellen elektronischen Medien entworfene Welt keine Ordnung und keine Bedeutung hat und nicht ernst genommen zu werden braucht. Kein Mord ist so brutal, kein Erdbeben so verheerend, kein politischer Fehler so kostspielig, kein Torverhältnis so niederschmetternd, kein Wetterbericht so bedrohlich, dass sie vom Nachrichtensprecher mit seinem »Und jetzt …« nicht aus unserem Bewusstsein gelöscht werden könnten.
Mut zur Lücke
Das war es, was gerade vor meinen Augen geschah, als ich ins Brötchen biss. Und jetzt Inflation – und jetzt Tourismus-Performance – und jetzt Wärmepumpen – und jetzt Krieg. Nichts hat etwas miteinander zu tun, alles existiert isoliert von allem. Die Medien behaupten, sie würden ein Abbild der Welt präsentieren: Also sagen und zeigen was ist. Die Gesamtheit dessen, was geschieht gewissermaßen. Dass das nicht stimmt, weiß der aufmerksame Betrachter. Lückenpresse ist ein Stichwort. Man muss wissen, was man auslässt, was bestimmte Einflussagenten innerhalb der Medienbetriebe an Auslassungen vorsehen. Was geschieht wirklich in der Ukraine? Wie ist das mit der Impfung? Hier heißt es Mut zur Lücke, will man als Journalist auch morgen noch berichten dürfen.
Doch noch nicht mal im Kleinen findet man ein Abbild der Wirklichkeit. Themen werden kleinteilig separiert, als hätten miese wirtschaftliche Zahlen nichts mit mieser Wirtschaftspolitik – und in diesem Falle mit mieser Außenpolitik – zu tun. Wenn man Meldungen zerlegt, als gesonderte Häppchen reicht, merkt vielleicht niemand, dass sowas von sowas kommt.
»Und jetzt …« ist nicht einfach nur eine Überleitung, es stellt einen perfiden Trick dar, die Welt nicht als großes Ganzes zu sehen, sondern als Sammlung voneinander abgeschotteter Ereignisse und Erscheinungen. Man hat das, was Postmann schon damals sah, nochmal beträchtlich perfektioniert. Die, die uns Nachrichten schreiben – ja, man schreibt sie, sie entstehen nicht einfach, man selektiert und wählt mit Bedacht Ausschnitte aus –, wissen ganz genau, wie sie das Arrangement gestalten sollen. Es muss nicht mal sonderlich intelligent sein.
Und jetzt … Habeck!
Wie man ja auch sah: Die Frühstücksrunde stierte doof auf den Bildschirm, keiner schien Dissonanzen zu verspüren. Gut, ich schon, aber ich schwieg auch. Wir saßen schließlich in einem Hotel, taten alles, damit es der deutschen Tourismusbranche wieder besser geht: Was soll das denn mit Inflation zu tun haben? Es ist doch wie mit den Insolvenzen: Nur weil da Betriebe schließen würden, muss das nicht gleich Insolvenz bedeuten. Schließlich werden Betriebe auch geschlossen, wenn Betriebsferien sind.
Der Wirtschaftsminister kann »Und jetzt …« wie kein anderer im Land. Er spricht dauernd in Sätzen, die offenbar nichts miteinander zu tun haben, die nicht aufeinander aufbauen und im schlimmsten Sinne als unzusammenhängend zu betrachten sind. Neulich ließ er wissen, dass die Kernkraftwerke in der Ukraine kein Problem seien, anders als die hierzulande. Grund: Sie seien gebaut. Finden Sie Zusammenhänge? Logik vielleicht? Nicht? Dann hat Habeck alles richtig gemacht – und jetzt: Verwirrung.
Der Medienbetrieb hat nicht die Aufgabe ein umfassendes Bild zu zeichnen. Das Gegenteil stimmt. Und jetzt: Konfusion. Und jetzt: Unübersichtlichkeit. Und jetzt: Ablenkung von den Zusammenhängen. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich da am Frühstückstisch saß und kaute. Dann wurde Baerbocks Reise nach China thematisiert, sie wolle wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Reich der Mitte, aber gleichzeitig sollte China deutsche Vorstellungen der Außenpolitik annehmen: Wieder zwei separate Meldungen, die auseinandergehalten wurden, obwohl man sie zusammen denken muss, um eines zu begreifen: Mein Gott, ist das eine Hybris. Und jetzt?