Was ich meinem fiktiven Enkelkind erzählen werde, wenn es mich danach fragt, wie wir damals in einen weiteren, in einen Dritten Weltkrieg stolpern konnten? Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
Wie konntet ihr das damals zulassen? Ich weiß nicht, ob ich je ein Enkelkind haben werde. Aber falls doch: Diese Frage wird es mir womöglich stellen. Und ich werde nach Antworten ringen. Im Vergleich zu anderen, werden mir Ausflüchte einfallen. Schließlich war ich wirklich nicht dafür; schließlich habe ich es hier schwarz auf weiß: Ich habe kein Öl ins Feuer gegossen.
Dennoch: Wie konnten wir das zulassen? Einen erneuten Weltkrieg. Tod. Zerstörung. Schicksale, die zerbarsten wie Glas. Leben, die nicht mehr waren wie zuvor. Ruinen. Alarme bei Nacht. Danach Trümmerfrauen. Trümmermänner. Trümmertransen. Und dann das Warten auf ein Wirtschaftswunder, das nie kam, obwohl alle glaubten, so ein Wunder sei nach so einem Weltenbrand logisch. Schließlich war es auch im vorherigen Krieg so gewesen.
Die Farbe des Untergangs
Wir hatten die besten Absichten, nie wieder sollte es so weit kommen. Sonntagsreden gab es genug. Selbst noch in der Zeit, als wir schon Waffen, später Kampfpanzer, noch später Flugzeuge und ganz am Ende Soldaten nach Osteuropa schickten. Noch in diesen Augenblicken, da die Tagespolitik Eskalation betrieb, bemühte sich die Wertepolitik sonntags um Erinnerung und Mahnung: Wir hatten doch aus unserer Geschichte gelernt.
Es sah ja auch danach aus. Braun war nichts mehr. Grün lag als Farbe im Trend. Grün ist die Hoffnung, die Natur, blühende Wiesen und Wälder. Wer konnte denn ahnen, dass grün die nächste Farbe des Untergangs werden würde? Ich, liebes Enkelkind. Ich und viele andere, die nicht gehört wurden, ahnten das. Es lag ja alles auf dem Tisch damals, man konnte ahnen, wohin die Reise gehen würde. Die Hölle tat sich schon auf, bevor es wirklich krachte. Aber zu viele verwechselten den Höllenschlund mit dem Tor zum Paradies.
Da waren Ministerinnen und Minister, bevorzugt grün bepinselt, die alles für einen Frieden taten, der aus Panzerrohren kam und auf Atomraketen ritt. Und da war auch einer mit langen, schmalzigen Haaren ohne Ministeramt, der das Grüne als Waffengang definierte. Ja, liebes Enkelkind, du hast ja recht, würde ich sagen, diese Grünen galten Jahrzehnte vorher als pazifistische Truppe – den Anspruch hatten sie längst verloren, als sie sich in Krieg übten. Sie wussten jedoch, wie sie dieses Image aufrechterhielten: Es waren ja alle grün in diesen Tagen. Auch die Meinungsmacher. Das war das Geheimnis ihres Erfolges und unseres Untergangs.
Nur die Lebenden schämen sich
Am Tag, als dieses Land und jene Länder, die man den Westen nannte, den Krieg erklärten, sah die Welt aus wie immer: Man trottete zur Arbeit, saß in einem Café, las ein Buch und die Primitiven schalteten abends auf ein Programm, bei dem Menschen, die im Dschungel saßen, Maden, Affenhoden oder Kängururotze fressen mussten. Wie, liebes Enkelchen? Du hast natürlich recht, eine Gesellschaft, die sich mit solchen Schweinerei unterhalten lässt, konnte gar nicht anders als im Krieg enden.
Du hast ja keine Ahnung, sagte ich dem Kind meines Kindes dann, wie sich das anfühlt. Man vernimmt so eine Kriegserklärung apathisch. In den ersten Tagen schiebt man es weg. Dann hofft man, dass es noch eine Lösung am Verhandlungstisch gibt. Wenn sie dann die jungen Leute rekrutieren, sitzt man daheim und weint. Aus Mitgefühl. Aber auch, weil man selbst nicht jung ist und froh ist, nicht selbst im Dreck kriechen zu müssen.
Recht schnell werden aber alle Zweifel beseitigt. Von der Regierung. Denn sie lässt Zweifler nicht mehr zu Wort kommen. Ob ich schwieg, willst du wissen, mein Kind? Ich würde gerne sagen: Nein, ich war immer laut in diesen Tagen. Aber dann säße ich nicht mehr hier. Man schwieg. Ich schwieg. Schweigen ist nicht einfach nur Gold – es bedeutete den Unterschied zwischen Atem in den Lungen oder luftleerem Brustkorb. Stolz darauf bin ich nicht. Eigentlich schäme ich mich dafür. Nur die Lebenden schämen sich. Dass ich noch da bin: Dafür schäme ich mich nicht, Liebes.
Wer zuerst killt, mahlt zuerst
Richtig, das war wirklich so, Schatz, wir saßen im Keller. Zusammengepfercht manchmal. Deine Urgroßmutter, meine Oma, hatte mir oft in meiner Kindheit von Nächten erzählt, in denen Fliegeralarm war. Acht Jahrzehnte vorher saß sie zusammen mit anderen unter der Grasnarbe und wartete, bis das Donnern und Poltern aufhörte. Mir erschien das als Kind wie eine fremde Welt, eine Erfahrung, die man in dieser Welt nicht mehr machen müsse. Menschen können so naiv sein. Was habe ich an meine längst verstorbene Großmutter gedacht in jenen Bombennächten …
Nein, ich war kein Held, ich würde dir gerne was anderes erzählen. Oft dachte ich daran, was ich machen würde, wenn ein feindlicher Soldat vor mir stehen würde. Ich hatte nichts gegen den Feind des Landes, er war nicht mein Feind. Aber die Logik des Krieges ist pervers: Natürlich hätte ich ihn töten müssen, damit er uns nicht tötet. Im Krieg haben von jeher Menschen andere Menschen auch dann getötet, wenn sie eigentlich nichts gegen diese hatten: Wer zuerst killt, mahlt zuerst. Wer es nicht tut, schaut am Ende nicht mal mehr blöd aus der Wäsche, weil er nicht mehr gucken kann.
Wirklich, ich habe gewarnt davor. Wollte das alles nicht. Mir war klar, dass es in eine Katastrophe münden würde. Während man uns in den Kanälen mitteilte, dass unsere Führung alles im Griff habe, konnte man doch sehen, dass da geifernde Stümper am Werk waren, die sich profilieren wollten. Sie haben ein Land, einen Kontinent geopfert. Im Laufe des Krieges sind viele von ihnen selbst zum Opfer der Umstände geworden, sie wurden unter Trümmern verschüttet, exekutiert, von Widerständlern erschossen. Traurig waren die wenigsten nach deren Abgang. Ich auch nicht. Selbst die, die sie vorher noch hochgehoben haben, empfanden sowas wie Genugtuung. Man stumpft ab, wird pietätlos: Auch das ist so eine Kriegslogik.
Als Berlin Geschichte wurde
Ja doch, werde ich meinem vor mir sitzenden Nachfahren mitteilen, ich war vorher ein paarmal in Berlin. Ich kannte die Stadt ein wenig, als es sie noch gab. Groß war sie. Laut. Kolossal trotz allem. Welch Tragödie. Berlin war als Hauptstadt ganz anders als es Kassel heute ist. Schade, dass du es nicht sehen konntest, liebes Enkelkind. Es hätte dir wahrscheinlich gefallen.
Auch der Tag der Bombe, als Berlin nicht nur Geschichte atmete, sondern Geschichte wurde, begann verheißungsvoll für alle, die diesen Krieg wollten. Truppen des Westens standen tief im russischen Raum, es hieß, man habe schon die Hochhäuser Moskaus gesehen. Dann regnete es den Tod in der Heimat, Berlin verpuffte, Moskau geriet außer Reichweite. Von da ab gab es nur noch Durchhalteparolen und einen geordneten Rückzug mit verbrannter Erde.
Heute wisst ihr ja, wie es dazu kam und welche Ziele die Parteien anstrebten. Damals geriet das alles aus dem Blick. Mitten im Krieg hätte keiner mehr sagen können, weshalb wir kämpften. Verbrannte Erde in den russischen Weiten war sicher nicht die Absicht des Anfangs. Und der Feind im Osten wollte auch Berlin nicht ausradieren. Aber je länger der Wahnsinn andauerte, desto drastischer wurden die Mittel und Wege. Die Führer sprachen von Augenmaß, sie redeten sich ein, noch Herr ihrer Sinne zu sein. Längst schon hatten sie die Kontrolle über das Geschehen, ihre Befehle und sich selbst verloren.
Nur ein dummer Unfall
Für viele war es erstaunlich, dass am Ende Verhandlungen standen, die der Hölle ein Ende setzten. Der reiche Onkel aus Übersee und die Macht aus Osteuropa saßen zusammen, gaben sich Garantien, teilten Europa unter sich auf und beendeten das Töten. Dabei war das überhaupt nicht erstaunlich. Ja, mein Kind, wenn ich es dir doch sage: Man hätte das ahnen können. Und viele – mich eingeschlossen – haben das bereits im Vorgeplänkel des Wahnsinns in Aussicht gestellt. Am Ende würde so oder so verhandelt, sagten wir damals. Aber man hielt uns für Schwächlinge und Dummköpfe.
Die neuen Herren und Herrinnen, die bereits da waren, als es noch detonierte, krachte und uns um die Ohren flog, erklärten uns, dass nun wieder alles seinen gewohnten Gang gehe. Und viele Menschen wiederholten diese Erkenntnis, redeten sich ein, dass es so war. Dabei war das Leben so viel ärmer, jeder hatte Verluste zu beklagen, wir lebten in Schutt und Asche und bekamen gesagt, dass alles war wie vorher. Wer das richtigstellte, galt schnell als Schwarzseher und wurde gemieden. Es war so viel einfacher, so zu tun, als habe dieser Krieg nur kurz das Tagesgeschäft unterbrochen. Als sei er ein dummer Unfall gewesen, den keiner kommen sah.
Vielleicht hast du Glück, mein Kind, und dir bleibt etwas Ähnliches in deinem Leben erspart. Falls nicht, lass dir gesagt sein, die Lehren, die deine Generation jetzt aus dieser Katastrophe zu ziehen glaubt, haben keine Substanz, wenn irgendwann wieder welche Krieg anstreben. Bei uns war es doch nicht anders, wir glaubten die Geschichte so gut aufgearbeitet und verinnerlicht zu haben. Ihr könnt noch so oft Erinnerungsreisen an den Ort machen, der einst Berlin hieß: Wenn sich die Führer und ihre Berichterstatter darauf einigen, das Land in Kriegsstimmung zu versetzen, entwickelt sich eine Dynamik, die keine Aufarbeitung mehr bremsen kann.
Dann werde ich mein Enkelkind bitten, meinen Rollstuhl in die Sonne zu stellen. Um die durch böse Erinnerungen erkalteten Füßen dort aufzuwärmen und mich zu wundern, dass ich immer noch da bin.