Unglaublich! Wahnsinn! Wirklich unglaublich! Wirklich Wahnsinn! Das sind jetzt meine Lieblingswörter geworden. Ungewollt zwar, aber sie rutschen mir jetzt ständig raus. Mehrmals am Tag. Eloquent ist das nicht.
Wenn man mir dieser Tage lauscht, könnte man annehmen, ich sei nicht besonders wortgewandt. Immer wieder rutscht mir ein »Unglaublich!« raus – oder ein »Wahnsinn!« bahnt sich seinen Weg. Ich klinge fast so wie einer dieser vielen Interviewten damals im November 1989, als die Mauer fiel. »Wahnsinn!« hat damals fast jeder gesagt. Das war zu der Zeit auch ein Modewort, man hatte damals einen Wahnsinnserfolg oder Wahnsinnselan und so weiter. Und »Unglaublich!« war ein anderer Wahnsinnsaufruf, den man seinerzeit vernahm. Irgendein Journalist hielt einem Mann im Trabi das Mikrofon hin und was rief der? Genau! Eben diese Worte. Von der Mauer schrien sie es herunter. Passanten plärrten es. Und es war ja auch eine unglaubliche Wahnsinnsnacht. Was hätte man auch sonst sagen sollen?
Mir geht es heute exakt so wie denen damals. Nicht aus Freude oder Verzückung. Aber seit mehr als zwei Jahren halte ich das, was hier passiert, nur noch für unglaublich und den schieren Wahnsinn. Ich lese, wie sich unsere geliebten Politiker und Schranzen im Regierungsflieger in maskenloser Normalität üben, während sie einen Tag später die Maskenpflicht in Flugzeugen verschärfen und mir entfährt: Unglaublich! Oder das Wirtschaftsministerium erklärt, dass die Gasumlage auch jenen Unternehmen die Kasse füllt, die gar keine leere Kasse haben, weil Unternehmen nämlich Gewinn machen müssen und ich schreie: Wahnsinn!
So läuft das jetzt? So läuft das jetzt!
Auch wenn das Worte sind, versinnbildlicht das doch etwas ganz anderes: Leute, ich bin nämlich zusehends sprachlos. Wenn andere sprachlos schweigen, rutschen mir eben solche Übersprungswörter aus dem Mund. Denn ganz ruhig kann ich nie sein, kriege ich nicht hin. Wenn ich sterbe, werden sie mein Maul extra totschlagen müssen, befürchte ich. Daher ist Sprachlosigkeit bei mir immer auch ein Akt des Ausrufens. Glaubt mir, ich bin in diesen Momenten so überwältigt von dem, was da abläuft, ich kann das gar nicht in Worte fassen. Und das ist tatsächlich für einen, der früher mal den Zeitgeist und seit einigen Wochen jetzt die Zeitenwende kommentiert, schon ein bisschen problematisch.
Müsste ich nicht sprühen vor Analyse? Wortreich beschreiben und kommentieren? Eigentlich ja! Und das kommt ja auch dann, nach einiger Zeit. Aber in den Augenblicken, da mich solche Vorgänge erreichen, da ich von ihnen lese oder höre, gibt es nur »Wahnsinn!« und »Unglaublich!« und sonst nichts. Und ich schüttle dabei ungläubig den Kopf. Eigentlich wirke ich dabei wie ein völlig Überrumpelter. Und sicher denkt sich der eine oder andere, wenn er mich so sieht: Boah, ist der naiv! Wo haben die denn den her?
Im Regelfall kocht danach erst der Zorn hoch. Und auch der macht mich nicht sonderlich poetisch und wortstark. Mein Zynismus wird dabei immer ätzender. Dann drängt sich immer dieselbe Frage auf, wirklich immer und immer wieder: Wie konnte es so weit kommen? Wie bist du hier gelandet? Sicher, die Welt und die Gesellschaft waren vorher ja auch nicht astrein oder auch nur okay. Aber gewisse Entwicklungen und Verhaltensweisen gab es einfach nicht. Politiker versteckten ihre Untaten wenigstens. Heute lächeln sie dich arrogant an. Es ist schier unglaublich!
Daher schreibe ich so gut wie nie über Tagesaktuelles. Ich brauche nämlich eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfinde. Erst dachte ich ja, ich konsumiere zu viele Stoffe, die mich geistig lähmen und abstumpfen lassen. Kann ja sein, oder etwa nicht? Aber mittlerweile habe ich begriffen: Es ist die Situation, in der wir leben. Die überrumpeln mich so dermaßen, ich weiß einfach nicht was ich sagen soll. Andere hauen eine Stunde später ein Statement oder einen Artikel raus. Bei mir muss es sacken, ich muss es mir erst verinnerlichen: Das ist kein Witz, das ist kein Traum – das ist die neue Normalität. Die Zeitenwende. So läuft das jetzt!
Lasst uns gemeinsam wieder unsere Sprache finden
Guérot bei Lanz: Unglaublich! Ukrainismus ohne Rücksicht auf Verluste: Wahnsinn! Die Spielregeln sind ja bekannt, dass es »koste es was es wolle« bis zum bitteren Ende geht, bis Russland ruiniert ist: Schon klar, dass diese Grundregel steht und alle möglichen kleinen und großen Meldungen, die sich um das Thema ranken, nicht neu sind, sondern nur Spielarten dessen, was ohnehin bekannt ist. Dass es in diesem Lande aber Menschen gibt, denen kein Mittel zu schade und zu blöd ist, um Stimmung zu machen, ja sorry, dass mich das einen Moment lang sprachlos macht. Womöglich ist mein Menschenbild zu positiv. Eigentlich bin ich immer der Ansicht gewesen, dass es eine Grenze des Debilen gibt. Jetzt, wo ich fast täglich spüre, dass dem nicht so ist, kann ich nur ausrufen: Unglaublich!
Anders gesagt: Ich komme einfach nicht an in dieser neuen Realität. Und da ich Realitätsverweigerung nur von Freitagabend bis Sonntagvormittag zulasse – einfach um mal kurz abschalten zu können -, muss ich mich der neuen Zeit ja stellen. Tue ich ja auch. Nur ist diese beschriebene Sprachlosigkeit eine Konsequenz, die unvermeidbar ist.
Nun glaube ich ja, dass ich mit fast allen Wassern gewaschen bin. Ohne Waschlappen. Auch so eine unglaubliche Aussage des Ministerpräsidentengroßvaters aus Stuttgart. Hatten Politiker früher nicht Berater, die einem ins Ohr säuselten: »Nee, des sagscht jetz mal ned, des fällt dir auf die Füß«? Aber der haut so einen Unsinn raus, einfach so. Unglaublich wirklich! Aber wie gesagt, ich wähne mich mit allen Wassern gewaschen. Dennoch bin ich teils wie gelähmt, wenn ich vernehme, was gerade wieder los ist in diesem wahnwitzigen Staat. Wie geht es da denn jenen, die weniger gewaschen sind? Weniger die Zusammenhänge kennen?
Klar, die sagten früher schon recht wenig und wissen heute nur, dass sie auch ganz sicher nichts sagen sollen, wenn ihnen ihr lieber Frieden was wert ist. Als Souverän sollen sie bitte wählen, aber sonst die Fresse halten. Wahrscheinlich haben sich viele in die innere Emigration verabschiedet. Und sind so sprachlos wie nie zuvor. Wir sollten uns im Herbst mal alle treffen und daran arbeiten, wieder unsere Sprache zu finden. Und wenn wir sie gefunden haben, lasst uns schreien. So laut, dass am Rande die Passanten stehen und »Wahnsinn!« und »Unglaublich!« rufen – und sich dann anschließen.