Ich war stets bemüht ein liberaler Vater zu sein. Habe meinem Kind alle Freiheiten gegeben. Egal, welchen Beruf es ergreifen wollte: Für mich war das in Ordnung. Hätte es aber gesagt, dass es die Pflege sei, für die es brennt: Da hätte ich interveniert und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um es von dieser wahnwitzigen Idee abzubringen.
Bei uns war das nie ein Thema: Was das Kind lernen will, soll es lernen. Eltern, die ihren Kindern dreinreden bei der Berufswahl, sie nicht einfach nur beraten, sondern vorgeben, wohin die berufliche Reise zu gehen hat, sind für mich ein Graus – sie legen den Grundstein für ein Unglück. Es ist nicht so, dass ich annehme, dass ein Kind besser weiß, was am besten für es ist. Es kann sich täuschen. Kinder sind ja auch nur Menschen. Aber Fehlentscheidungen muss man selbst treffen. Oktroyierte Fehler sind doppelt so hart. Daher geziemt es sich, als Elternteil von Format, zurückhaltend zu sein, wenn es daran geht, einen Ausbildungsberuf für den Nachwuchs zu finden.
Hätte mein Kind aber gesagt: Vater, ich glaube, ich möchte einen Pflegeberuf ergreifen, so hätte ich interveniert. Und zwar nur bei diesem Beruf. Warum? Weil ich mein Kind liebe – und weil ich nicht will, dass es zu Schaden kommt. Ja, ich hätte es geradezu verboten. Es gibt nämlich Fehlentscheidungen, die sollte man Kinder nicht treffen lassen. Dazu gehört unter anderem, sich in ein ausbeuterisches System zu begeben, einen Kreislauf der Zermürbung zu betreten, der zur Lebensfalle wird. Das ist natürlich eine an sich dumme Haltung, wenn mehrere so tickten, werden wir im Alter bald auf uns alleine gestellt sein. Das ist hart – aber die Ausbeutung junger Menschen ist nicht die Lösung dieses Problems.
Eingang in die selbstverschuldete Unmündigkeit
Jeder von uns kennt wohl die Erzählungen von Bekannten, die im Pflegeberuf tätig sind. Man wundert sich oft, denn eigentlich wird der Beruf ja glorifiziert: Die Bundesregierung suchte noch vor der Pandemie »Pflegehelden«, die ehemalige Bundeskanzlerin sprach in einem ihrer Podcasts von »Helden des Alltages« – das, was die Pflegenden in unserem Umfeld berichten, klingt stets anders. Nicht heldenhaft. Sie berichten von Stress, zu viel Arbeit, zu wenig Ruhepausen, ausbeuterischen Verhältnissen und Arbeitgebern. Seien Sie ehrlich, wann haben Sie zuletzt erlebt, dass jemand aus Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis, der diesen Beruf ergriffen hat, mit Begeisterung von der Berufung spricht, Menschen helfen zu können? Ich habe das nie erlebt, denn die realen Verhältnisse überlagern den Idealismus, den man haben muss, um einen Pflegeberuf ergreifen zu wollen.
Okay, im Anzeigenbereich sieht man hin und wieder Fotos von Pflegenden, die sich in den höchsten Tönen zu ihrer Berufswahl äußern. Die wollen aber auch neue Kollegen generieren – und vermutlich sind das nicht mal Pflegekräfte, sondern Modells, die man in einen Kasack gesteckt hat. Worauf ich aber eigentlich hinauswill: Dass es die Wahl eines solchen Berufes mit schweren Bürden, ja mit Selbstausbeutung und auch Selbstaufgabe im Zusammenhang stehen, könnte man durchaus wissen, wenn man nur ein wenig zuhörte. Denn der Pflegeberuf ist längst entzaubert.
Wer sich da hineinbegibt, man sehe es mir nach, wenn ich das so direkt formuliere: Aber der durchschreitet den Eingangsbereich in die selbstverschuldete Unmündigkeit. Wenn man auch nur eine Chance hat, diesem Berufsfeld zu entgehen, sollte man – aus Gründen des Selbstwertgefühls – die Flucht antreten. Es ist naiv zu glauben, man könnte gut durch die miserablen Strukturen des Gesundheitswesen hindurchsteuern, wenn man nur etwas auf sich achtet und seine Resilienz hier und da schult. Wenn man in dieser Maschine, dieser Mangelapparatur erst eingespannt ist, kommt man nicht mehr heraus, ohne selbst Schaden zu nehmen. Aus meiner naiven Sicht gibt es nur eine Chance, die Strukturen wirklich zu verändern: Indem möglichst viele fernbleiben – wenn man der Zermürbungsmaschine immer wieder neue Kräfte zusetzt, verschleißt sie weiter Personal und weiter Personal. Denn es scheint ja immer Nachschub zu geben. Bis kürzlich glich man den Mangel mit ausländischen Arbeitskräften aus. Aber auch diese Masche kommt an ihre Grenzen. Es wollen immer weniger in deutschen Krankenhäusern und Altenheimen arbeiten.
Aber wer kümmert sich dann mal um uns?
Zu dieser beruflichen Entscheidung kommt ja an sich noch eine Grundüberlegung hinzu, man könnte fast sagen, das »metaphysische Dilemma der Pflege«: Die Würde des Pflegenden – wie des Gepflegten. Im Pflegeverhältnis stellt sich ja die Frage nach der menschlichen Würde beidseitig. Einmal hat man da den gepflegten Menschen, der hilflos und nicht autonom ist – und der jemanden als Erfüllungsgehilfen seiner täglichen Verrichtungen benötigt. Um mit Kant zu sprechen: Er benötigt jemanden, den er nicht als Zweck, sondern als Mittel »verwenden« muss. Auf der anderen Seite ist da freilich derjenige, der zu so einem Mittel degradiert wird, der dem Pflegebedürftigen »den Hintern abwischt«, wie der Volksmund dieses Urdilemma gerne bildhaft ausschmückt. Die Pflegekraft wird dann auch nicht als autonome Person betrachtet, sondern als Verlängerung des eigenen Antriebs.
Mit dieser Grundüberlegung hat es die Pflege an sich ja schon schwer genug. Die Berufswahl ist keine wie jede andere. In anderen Berufsfeldern arbeitet man mit Materialien, verwaltet Geld oder verkauft eine Dienstleistung. Die Pflege ist allerdings ein zwischenmenschliches Arrangement in den Grauzonen des menschlichen Würdebegriffes. Wenn diesem Dilemma nun auch noch Hemmnisse in den Weg gelegt werden, die bei niedrigen Löhnen anfangen und bei schlechter Arbeitszeit aufhören, schreckt das ohnehin Menschen ab. Die, die sich allerdings für den Beruf entscheiden, werden quasi doppelt entwürdigt, weil sie in dieser Grauzone der Würde auch noch ausbrennen, ausgeplündert und ausgesaugt werden.
Aber ist das nicht pure Naivität, den Leuten einen solchen Beruf am liebsten gleich vorneweg ausreden zu wollen? Immerhin sind viele, die diesen Text gerade lesen, vielleicht bald selbst schon auf helfende Hände, auf eine menschliche Stütze angewiesen. Und wenn es dann so weit ist, so schwören sie sich natürlich jetzt, dann werden sie der ihr zugeteilten Pflegekraft mit ausgewählter Freundlichkeit begegnen. Ich gebe ja zu, dass so ein abschreckendes »Frühwarnsystem« wie dieser Text, hätte er denn Erfolg, manchen Patienten wirklich zusetzen würde. Aber mir geht es hier um Sensibilisierung.
Ihr Ausbrennen ist nicht unsere Lösung
Denn es ist mitnichten so, dass es eine Selbstverständlichkeit wäre, als erkrankter Mensch irgendwie Fürsorge zugeteilt zu bekommen. So eine relative Selbstverständlichkeit gab es vielleicht noch in Zeiten, da das Christentum ideologisch dazu beitrug, ins Karitative auszuschwärmen. Aber in diesen Zeiten, gerade auch in einer Epoche, da alles zur Ware umgedeutet wird, halte ich es für vermessen, dass ausgerechnet der Pflegeberuf weiterhin für Werbe- und Rekrutierungszwecke in einer idealistischen Blase eingetütet werden soll, die es verunmöglicht, dass sich Pflegende als Lohnangestellte sehen, als Beruf- nicht als Berufungsgruppe. Indem man den Beruf emotionalisiert, nährt man den Irrtum einer moralischen Verpflichtung, den Laden irgendwie am Leben zu halten – auch wenn man sich selbst dabei wehtut.
Aber Pflegende sind nicht menschlich und humanitär verpflichtet, zu bleiben, Überstunden zu klotzen, es auszubaden, ihre Arbeitskraft aufzuzehren, um ein System zu stützen, das geradezu darauf ausgelegt ist, menschliche Arbeitskraft bis auf Anschlag auszureizen. Das Ausbrennen von jungen Menschen, die naiverweise in ein solches System geraten, weil sie die warmen Worte der Headhunter glaubten, ist auch dann nicht erträglich, wenn sie doch unbedingt benötigt werden, um Heere von Alten und Patienten zu versorgen. Es bleibt falsch. Denn ein Menschenleben zu quälen, um andere Menschenleben zu pflegen: Wo ist da die Würde?
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass junge Menschen auf Gedeih und Verderb ihre Kräfte investieren, um diese absolut wichtige Aufgabe für die Gesellschaft zu leisten. Eine Gesellschaft, die sich dessen nicht bewusst wird und dieses System der Fallpauschalen und Privatisierung – übrigens aktuell gut erklärt von Thomas Strohschneider in seinem Buch »Krankenhaus im Ausverkauf« – zum Teufel jagt, um wieder menschlichere Bedingungen für die dort Beschäftigten entstehen zu lassen, sollte sich nicht darauf verlassen können, dass weiterhin die Naivität und der gute Glaube junge Menschen dazu bringt, sich verheizen zu lassen. Solange sich darauf verlassen werden kann, wird sich dieses Berufsfeld nicht verändern – von einigen Pflichtstunden allgemeinen Applauses mal abgesehen.