Während in der Ukraine Krieg ist, mosern hier selbstgefällige Bürgerinnen und Bürger über steigende Energiekosten. Dann sollen sie halt frieren – oder zu Fuß zur Arbeit gehen: So oder so ähnlich klingen Politiker und Medienleute momentan. Sie erinnern dabei fatal an Ulrike Meinhof.
Zuletzt fiel dann Georg Restle, Moderator des ARD-Magazins Monitor dadurch auf, den Menschen im Lande – wieder mal – die Leviten lesen zu wollen. »Diskussionen um Spritpreise in Deutschland«, so maßregelte er bei Twitter, »während hier in der Ukraine der Krieg tobt. Niemand hier im Land, niemand versteht die Debatte in Deutschland. Und ich schäme mich zutiefst, den Menschen hier erläutern zu müssen, wovor viele Deutsche sich gerade am meisten fürchten.« In der Rolle des umsichtigen Welterklärers fühlt sich der Mann gut. In den letzten Monaten ist er öfter als Deuter in Erscheinung getreten, um den Menschen darzulegen, wie sie jetzt zu ticken haben. Diese Form der intellektuellen Restleverwertung nennt sich seit geraumer Zeit schlicht »Haltung« – und eine solche hat man noch vor dem Einhalten journalistischer Standards vorzuweisen.
Restle schämt sich also, dass arbeitende Menschen an einen Arbeitsplatz kommen müssen, an dem sie in den letzten Dekaden massive Lohnzurückhaltung an den Tag gelegt haben. Sie sorgen sich, wie sie Mehrkosten von vielleicht bald dreistelligen Eurobeträgen in der Woche stemmen können. Vielleicht würden sie gerne auf die Bahn umsteigen – die zwangsläufig auch teurer werden wird -, die es in ihrem Ort aber (nicht mehr) gibt. Oder in einen Bus, der nicht häufig im Ort anhält und auch gar nicht fahrplangemäß kommt. Dass sich diese Menschen um sich sorgen, darum, dass die steigenden Energiekosten zu einer schweren Wirtschaftskrise führen könnten, in deren Verlauf sie vielleicht ihre Arbeit verlieren werden: Der Qualitätsjournalist schämt sich. Und damit ist er nicht alleine: Mehrere Politiker aus verschiedenen Parteien äußerten sich ähnlich, Journalisten schlugen ohnehin so einen Ton an und die Social Justice Warriors, die ihr Account-Bild mit gelber und blauer Farbe angeschmiert haben, taten dies sowieso.
Ulrike Meinhofs Gretchenfrage
Und nun haben wir noch nicht mal vom ehemaligen Bundespräsidenten gesprochen. Der saß neulich in einer Talkshow und erklärte unwidersprochen, dass wir für einige Jahre durchaus mal etwas Lebensglück einbüßen könnten. Überhaupt sei es auch mal drin, für die Freiheit zu frieren. Joachim Gauck klang dabei wie einer dieser pastoralen Stimmen aus einer dieser pathetischen Vierzigerjahre-Wochenschauen, in der das deutsche Volk auf die Entbehrungen des Krieges eingestellt wurden. Der Herr Pastor hatte es in der DDR übrigens kuschelig warm. Widerstandskämpfer wurde er erst nach 1989/90 – ganz zur Überraschung der Bürgerrechtler. Vorher hat er sich gut arrangiert mit den Mächtigen. Für die Freiheit frieren: Das wollte er offenbar nicht. Er wärmte sich am Feuer der Angepasstheit.
Man könnte noch so viele aufzählen, die jetzt auf den Entbehrungsreichtum einstimmen, die aufmuntern, auch mal mehr für Energie zu entrichten, wenn es nur moralisch geboten scheint. Und alle eint sie die klare Erkenntnis darüber, dass man wegen ein bisschen höherer Lebenshaltungskosten nun wirklich nicht kleinlich sein soll, wo doch andernorts Menschen den Krieg erleben: Sollen sie doch Kuchen tanken, Mensch! All diese Frugalitätsprediger verstricken sich dabei in einen eindimensionalen Radikalismus. In einen Radikalismus, der eher an die totalitäre Weltsicht eines Baader oder einer Meinhof denken lässt, als an die Umsichtigkeit von Musterdemokraten.
Man denke da mal an jene Szene mit Ulrike Meinhof zurück, die uns der Autor Bahman Nirumand viele Jahre später vermittelte. Noch bevor die Konkret-Journalistin aus dem Fenster in die Illegalität sprang, hatte sie einst Nirumand die Leviten gelesen, weil der die Fenster seiner Wohnung strich. Wie könne er das nur in aller Seelenruhe tun?, wollte sie wissen. Gerade jetzt, wo der Imperialismus so um sich greife! Wo in Vietnam Menschen sterben! Und er kümmere sich um so unwichtige, so kleinliche Tätigkeiten. Aus ihrer Warte heraus gab es neben den Themen, die sie rund um die Uhr beschäftigten, nichts mehr von Bedeutung. Sie konnte sich ganz offenbar schier nicht mehr ausmalen, dass der Mensch in seinem Alltag vielschichtiger ist, verschiedene Relevanzebenen eingehen kann, ja muss.
Krieg ist auch nur Klassenfrage
So kann er streichen und sich synchron dazu um den Weltfrieden sorgen. Oder er kann sich Sorgen um Energiepreise machen, die er irgendwie bezahlen muss, so er weiterhin ein aktives Leben, ein werktätiges Dasein begehen will. Oder weil er regelmäßig zur Pflege seiner alten Herrschaften fahren muss. Es gibt ja so viele Dinge, weswegen Menschen heute Mobilität benötigen. Denn »das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen«, wusste schon Blaise Pascal. Wäre dem so, wäre der Mensch ein Stubenhocker aus Überzeugung, könnte man dort selbstlos des Krieges gedenken, den es dann ja gar nicht gäbe, weil auch die anderen auf dem Sofa lümmelten: Man stelle sich mal vor es wäre Krieg und keiner ginge hin, weil sie alle auf ihren Zimmern blieben.
Pascal hatte ganz sicher recht. Die Welt wäre, wäre der Mensch anders gestrickt, nicht schlechter. Es gäbe keinen Klimawandel. Keine überfüllten Innenstädte. Weniger Feinstaub. Und jede Pandemie erstickte im Keime. Aber am besten wäre in so einem Couchpotato-Gemeinwesen, dass Leute wie Restle oder Gauck, all die oberlehrerhaften Qualitätsjournalisten weniger Verachtung gegenüber jenen Schichten an den Tag legen würden, die die Suppe gemeinhin immer dann auslöffeln, wenn es teuer wird. Die Rede ist vom ärmeren Teil der Gesellschaft, von Menschen, die sich als Lieferanten verdingen, als Kassiererinnen oder Pflegekräfte, am Fließband oder auf dem Bau. Aber auch von Rentnern und Arbeitslosen. Diese Gruppen, die sich um ihre Existenz fürchten, gerade jetzt, wo die Folgen des Krieges bei ihnen spürbar ankommen, erhalten nichts als arrogante und elitäre Belehrung, wie sie sich jetzt zu fühlen, was sie jetzt zu denken, wie sie sich zu artikulieren haben.
Und wenn sie die Vorstellungen dieser völlig abgehobenen Hautevolee nicht erfüllen, erfahren sie, wie sehr man sich für sie schämt. Die Klassengesellschaft ist nicht tot – das war sie nie. In Zeiten des Neoliberalismus hat man ja stets betont, dass Klassenkämpfe längst passé sind, denn die seien ideologisch und eine Ideologie gäbe es schließlich nicht mehr. Der Neoliberalismus wandte genau das an, was die Cosa Nostra über Jahrzehnte in den USA tat: Sie wiegelte immer ab, dass es sowas wie eine Mafia oder Cosa Nostra doch gar nicht gäbe. Denn der Neoliberalismus ist die Ideologie und er wirkt bis heute: Wenn man Ereignisse wie einen Krieg nicht mehr als Klassenkampf sehen darf, wenn Klassensorgen ausgeblendet und moralisch verurteilt werden, dann ist das nicht die Abwesenheit der Klassengesellschaft – es ist der Beleg dafür, denn es ist Klassismus. Es gibt nichts, was die Klassengesellschaft so unterstreicht wie ein Krieg und wie jene, die ihn uns propagandistisch nahebringen.