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Putins Konservatismus

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Zum 18. Mal diesmal in der schönen Stadt Sotschi gelegen am Schwarzen Meer, fand vom 18. bis 21. Oktober die Jahrestagung des International Discussion Club „Valdai“ statt. Die Veranstaltung gilt als das wichtigste intellektuelle und politische Ereignis im russischen Kalender. An dem Treffen nahmen Experten, Akademiker und Politiker aus mehreren Ländern teil.

Führende russische Politiker, darunter Außenminister Sergej Lawrow und der Bürgermeister von Moskau Sergej Sobjanin, sprachen auf der „Valdai“-Konferenz. Der Höhepunkt war jedoch die Rede von Präsident Wladimir Putin, der bei den Klubtreffen traditionell das Wort ergreift. Dieses Mal war die Rede möglicherweise noch bedeutsamer als sonst. Sie enthielt ideologische und programmatische Erklärungen, die es erlauben, den Gedankengang und die Bestrebungen der russischen Behörden nachzuvollziehen und vorherzusagen.
Wladimir Putin sprach erstmals im Februar 2007 in seiner berühmten Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz ausführlich und öffentlich über die russische Vision des internationalen Kräftegleichgewichts. Schon damals verkündete er nicht nur das Manifest einer multipolaren Welt als Grundlage einer zukünftigen internationalen Ordnung, sondern auch das Credo der Souveränisten. Die Behauptung einer veränderten Form der internationalen Ordnung wird heute immer häufiger aufgestellt.

„Diejenigen, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges – auch darüber haben wir oft gesprochen – siegreich fühlten, die bald spürten, obwohl sie glaubten, dass sie den Olymp schon erklommen zu haben, die bald spürten, dass ihnen auch auf diesem Olymp der Boden unter den Füßen weggezogen wurde – aber diesmal bei ihnen selbst, und niemand den Moment aufhalten kann, so schön er auch sein mag“, sagte der russische Präsident in Sotschi.

Der Trend zur Verschiebung des Kräfteverhältnisses von einem hegemonialen zu einem multipolaren System ist Tatsache. Die nächsten Etappen der globalen geopolitischen Entwicklung könnten tektonische Verschiebungen in der Lage der Weltzentren sein. Der Polyzentrismus, der vor unseren Augen Gestalt annimmt, ist etwas, das für alle von Vorteil ist, ein System, das niemand zu fürchten hat, eine Welt, die frei von hegemonialen Bestrebungen ist.

In seiner Rede vor dem „Valdai“–Klub machte Putin deutlich, dass eine Reihe von Phänomenen und Trends einen entscheidenden Einfluss darauf haben, dass eine Rückkehr zu den früheren Machtverhältnissen nicht möglich ist. Er setzt die Idee der Souveränität fort, die er schon mindestens seit 2007 vertritt. „Die strukturgebende Einheit der Weltordnung ist nur der Staat“, betont er. Die jüngsten Krisensituationen beweisen seiner Überzeugung nach, dass keine globale Struktur, keine nicht staatlichen Akteure (z. B. globale Konzerne) diese Funktionen und Aufgaben, die sonst auf den Schultern des Staates liegen, in entscheidenden Momenten übernehmen könnten. „Nur souveräne Staaten sind in der Lage, wirksam auf die Herausforderungen der Zeit und die Forderungen der Bürger zu reagieren“, schließt er.
In einer Reihe von Fragen erweist sich jedoch die Zusammenarbeit dieser souveränen Länder auf globaler Ebene als unerlässlich. Das beste Forum für diese Zusammenarbeit sind nach Ansicht von Wladimir Putin nach wie vor die Vereinten Nationen, deren überstürzte Reformversuche (z. B. Änderung der Zusammensetzung oder der Entscheidungsverfahren des Sicherheitsrates) zu einem Rückgang der Autorität der gesamten Struktur führen könnten.

Die westlichen Medien lenkten die Aufmerksamkeit in erster Linie auf den moralischen Konservatismus, den der russische Präsident in seiner Rede auf dem Klubtreffen angedeutet haben soll. Putin plädierte indes nicht so sehr für eine Art starren Traditionalismus, sondern vielmehr für einen reinen gesunden Menschenverstand zur Verteidigung der Identität und warnte vor den aufgezwungenen, eingebildeten Identitäten, die von den sogenannten Progressiven aus dem „globalistischen“ Lager gefördert werden. Er wies auf die offensichtlichen Probleme der zeitgenössischen Kultur im sogenannten Westen hin, die zunehmend durch absurde politische Korrektheit eingeschränkt wird. „Die Zerstörung uralter Werte, des Glaubens, der zwischenmenschlichen Beziehungen bis hin zur völligen Abschaffung der Familie (was auch geschah), die Auferlegung und Förderung der Denunziation von geliebten Menschen – all das wurde als Fortschritt deklariert und fand übrigens damals in der Welt breite Unterstützung und war in Mode – genau wie heute. Übrigens haben auch die Bolschewiki keinerlei Toleranz gegenüber anderen Meinungen gezeigt“, erinnerte der russische Staatschef.

In seiner „Valdai“-Rede in Sotschi hat der russische Präsident vielleicht zum ersten Mal so deutlich seine ideologische Identität betont. Vier verschiedene Definitionen für die Interpretation des ihm nahestehenden Konservatismus tauchen auf: „gesunder Konservatismus“, „vernünftiger Konservatismus“, „gemäßigter Konservatismus“ und „Konservatismus der Optimisten“. „Unser Konservatismus ist ein optimistischer Konservatismus, das ist das Wichtigste. Wir glauben, dass eine stabile und erfolgreiche Entwicklung ausführbar ist. Alles hängt in erster Linie von unseren eigenen Anstrengungen ab“, heißt es in einer Erklärung, aus der wir lernen, dass Konservatismus nicht Verzicht auf Fortschritt bedeutet, sondern eine ruhige, überlegte Entwicklung mit sich bringt.

„Der konservative Ansatz ist keine geistlose Vormundschaft, keine Angst vor Veränderungen und kein Spiel mit der Erhaltung, geschweige denn, dass wir uns in unser eigenes Schneckenhaus einschließen. Es ist vor allem das Vertrauen in die bewährte Tradition, die Erhaltung und Vermehrung der Bevölkerung, der Realismus bei der Einschätzung der eigenen Person und der anderen, die genaue Konstruktion des Prioritätensystems, die Korrelation zwischen dem Notwendigen und dem Möglichen, die kalkulierte Formulierung des Ziels, die prinzipielle Ablehnung des Extremismus als Handlungsweise“ – es ist eine Vorstufe dazu, die soziale und politische Stabilität als Wert an sich zu interpretieren, unüberlegte Entscheidungen zu vermeiden und keine übereilten Änderungen vorzunehmen, die die bestehende Ordnung stören könnten.

Putin bietet keine konsequente universalistische Ideologie. Seine Botschaft kann vielmehr als Aufforderung an andere verstanden werden, ihren eigenen, einzigartigen Weg zu gehen, der auf ihren Traditionen, ihrer Kultur und ihren eigenen intellektuellen Leistungen beruht. Es ist ein Aufruf nicht nur zur geopolitischen, sondern auch zur ideologischen Multipolarität. Wladimir Putin ist Verteidiger natürlicher Unterschiede und biologischer Identitäten gegen einen „globalistischen“ Universalismus, der alle Identitäten auf die Ebene von Einheiten reduziert, die zudem höchst instabil sind. Er fordert uns auf, aufzuwachen und uns selbst zu respektieren, auch unsere traditionellen nationalen Wurzeln sollen wir nicht vergessen. Er will niemandem etwas aufzwingen, sondern uns vor der Einsamkeit warnen, die unweigerlich entsteht, wenn man die gemeinschaftliche Identität aufgibt.

Mateusz Piskorski

Über den Autor
Mateusz Piskorski ist ein polnischer Politikwissenschaftler, Doktor der Politikwissenschaften, autorisierter Rektor der Schule für internationale und regionale Zusammenarbeit in Wolomin, Publizist, internationaler Kolumnist für Myśl Polska, Mitglied des 5. polnischen Sejm, politisch unterdrückt in den Jahren 2016–2019, Kommentator für mehrere russisch- und englischsprachige Ausgaben. Autor von mehr als 40 wissenschaftlichen Artikeln, Autor und wissenschaftlicher Herausgeber von 5 wissenschaftlichen Arbeiten.

Gastautor
Gastautorhttps://staging.neulandrebellen.de/
Der Inhalt dieser Veröffentlichung spiegelt nicht unbedingt die Meinung der neulandrebellen wider. Die Redaktion bedankt sich beim Gastautor für das Überlassen des Textes.

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