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Gedenken nur sonntags

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Wie viele der Ministerpräsidenten, die am kommenden Mittwoch zusammensitzen, um Diskriminierung und Ausschluss zu beschließen, werden tags zuvor noch bei einer Gedenkveranstaltung laut »Nie wieder!« skandiert haben? Ich frage für einen, der den Anfängen wehren wollte …

Morgen ist der 9. November: Ein geschichtsträchtiger Tag in der deutschen Geschichte. An jenem Herbsttag jagte man einst den Kaiser zum Teufel. Viele Jahre danach fiel mit selben Datum die Mauer. Und ja, da war noch was anderes: Die Novemberpogrome nämlich, die man hierzulande besser unter dem Namen »Reichskristallnacht« kennt. Das Gedenken jenes Tages aus dem Jahre 1938 überlagert das Gedenken an all die anderen wegweisenden Ereignisse, die sich am 9. November, diesem deutschen Tag, ereigneten. Wir gedenken deshalb Jahr für Jahr des Ungeistes von damals und beteuern eifrig, dass sich das nicht wiederholen darf.

Am 10. November ist alles vorbei

Dieses Gedenken gehört zum Gründungsmythos dieser Republik. Man kennt das Erbe, das man angetreten hat und bekennt sich dazu. Dieses Bekenntnis macht sich durch Ablehnung der damaligen Geschehnisse und Wachsamkeit bemerkbar. Jedenfalls werden diese Werte rhetorisch bemüht. Diese Rhetorik hat sich aber freilich zu einem leblosen Ritual gemausert. In Sonntagsreden wird gemahnt wie eh und je, dass man aufpassen müsse, man dürfe nicht zu bequem werden, den Anfängen wehren und dürfe diesen Ungeist nie wieder auf die Sprünge helfen. In der Wirklichkeit kommen diese frommen Wachsamkeitswünsche aber nicht immer, ja immer seltener an.

Am kommenden Mittwoch – den 10. November – wollen sich die Ministerpräsidenten und die Geschäftsführerin dieses Landes nochmals zusammensetzen. Ministerpräsidentenkonferenz nennt sich dieses nicht verfassungsfeste Gremium, dass dann erneut Entscheidungen fällt. Eine soll sein, dass man eine Bevölkerungsgruppe ausgrenzt, sie in den Lockdown schickt und ihre Kontakte reglementiert. Die Bevölkerungsgruppe wird bekanntlich genannt: Die Ungeimpften. Nicht die ungeimpften Menschen. Oder etwa die ungeimpften Bürger. Nein, schlicht: Die Ungeimpften. Das ist ein Label, das gezielt das Menschliche aberkennt, sprachlich weglässt. Das Attribut wird zu einem »Gattungsbegriff«, der für sich alleine steht. Sie lassen die Stimmung wider aller Evidenz hochkochen, schüren die Wut, drängen zur Separation. Es wäre kein Wunder, wenn mancher Aufgepeitschter sich da nicht eine Bundeskristallnacht herbeisehnen würde. Das Gewaltpotenzial ist jedenfalls vorhanden.

Tags zuvor mag mancher von den Entscheidern in diesem grundgesetzwidrigen Gremium noch des Ungeistes von dunnemals gedacht haben. Unter Umständen sogar gemahnt haben, aus dieser Zeit seine Lehren zu ziehen: Lasst das nie wieder geschehen! Aber helfen wird dieser noble Gedanke nicht. Denn wir manövrieren uns zusehends in eine autokratische Gesellschaft hinein und die Mahner machen das, wovor sie uns sonst immer mal so sonntags in feschen Reden und feiertags bei Zeremonien gemahnt haben.

Die Singularität von damals: Freifahrtschein für heute

Ich möchte nicht sagen, dass all diese bundesrepublikanische Gedenkkultur für die Katz‘ war. Aber ich muss es sagen. Welchen Wert soll das haben, wenn man schlimmer Verbrechen – und vor allem der Denke dahinter – aus der Vergangenheit gedenkt, sie zu einem Lehrstück pädagogisiert, aber dann an der Umsetzung des Gelernten im Alltag scheitert? So eine Gedenken ist ein totes Feld, wenn es überhaupt keinen Nutzen im Hier und im Jetzt hat, dann dient es nur der schönen Kunst, sich als besserer, aufgeklärterer Mensch zu fühlen; besser und aufgeklärter als unsere Großeltern es waren, versteht sich. Aber das ist alles nur in deren Kopf, in den Gehirnwindungen der Gedenkenträger. Für die Gegenwart, für das reale Leben, hat das gar keine Bedeutung.

Es ist zu befürchten, dass die Losung, die immer wieder bei diesen Gedenken zur Kenntnisnahme aufgetischt wurde, nämlich jene von der Singularität der damaligen Ereignisse, eine ziemlich bequeme Vermeidungsstrategie für jene darstellt, die Gedenken ritualisiert abspulen wollen. Denn diese Einzigartigkeit der damaligen Geschehnisse, angefangen bei der Diskriminierung und dem Ausschluss vom öffentlichen Leben, wurde von unseren Eliten dazu missbraucht, vergangenes Unrecht als gedenkwürdig zu deklarieren, als etwas, was nie wieder stattfinden dürfe, während sie gleichzeitig das aktuelle Unrecht als davon nicht betroffen betrachteten. Wenn nur das Singuläre, das Einzigartige gedenkwürdig ist, gibt es ja nichts, was dem gleichen, ähneln, ja womit man es vergleichen könnte. Einzigartiges passiert ja genau einmal – und nicht öfter. Dabei ist der Ungeist, der auf diese Weise antreibt, mitnichten einzigartig.

Alleine dass ich mich an dieser Stelle in solchen Gedanken übe, wird in jenen Kreisen, die jetzt Diskriminierung verordnen, als Frevel betrachtet. Sie haben mit damals nichts zu tun, sagen sie. Sie machen all das, weil sie das Gute wollen. Wer ihnen unterstellt, nichts aus der Geschichte gelernt zu haben, muss quasi ein Schwurbler, ein Querdenker, ja ein Rechter oder gar Nazi sein. Man kann demgemäß heute also Nazi sein, weil man vor dem totalitären Geist warnt, der damals das Land in den Griff nahm. Auch daran sieht man: Die haben nichts, wirklich gar nichts kapiert.

PS: Mittlerweile hat sich der Termin am 10. November offenbar zerschlagen. Als ich den Text schrieb, galt der 10. November noch als gegeben. Das ändert aber freilich wenig an dem, was der Text aussagen will.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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