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Gil Ofarim: Von Tätern und Opfern

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Ja, was denn nun? Wurde Gil Ofarim Opfer einer antisemitischen Attacke oder nicht? Seit zwei Wochen wird darüber diskutiert, einmal rauf, und dann noch einmal runter. Dabei wäre es viel wichtiger, sich mit den Begriffen Täter und Opfer einmal zu befassen. Wenn es möglich ist, gern vorurteilsfrei.

Ich schreibe diesen Text bewusst erst jetzt. Nach dem vermeintlichen antisemitischen Vorfall kochten die Emotionen so hoch, dass ich mich zur Ruhe überredete. Was – und das kann ich wahrlich nicht immer von mir behaupten – eine gute Idee war. Denn inzwischen hat Ofarims Geschichte sichtbare Risse bekommen. Trug er überhaupt den Davidstern, um den es ging? Wenn man aktuellen Bildern glaubt, wohl eher nicht.

Auch seine Erklärungsversuche bei BILD sind nicht unbedingt überzeugend, wenngleich für mein Empfinden immer noch unklar ist, ob er seine Kette irgendwie, irgendwo an seinem Hals trug, und zwar so versteckt, dass man sie einfach nicht auf den Videoaufnahmen des Hotels entdecken konnte. Ich neige zwar mittlerweile dazu anzunehmen, dass Ofarim sich die Geschichte – zumindest in dieser Form – nur ausgedacht hat, aber da ich nicht sicher bin, halte ich mich zurück und versuche nicht, hier die absolute Wahrheit zu verkünden, sondern lediglich meine Eindrücke zu schildern.

Opfer bleibt Opfer

In einem Kommentar auf t-online.de ist nachzulesen:

Plötzlich sind die Zweifel da. Hat es sich so zugetragen oder nicht? Die Beweislast liegt jetzt offensichtlich beim Geschädigten – Gil Ofarim. Vom Opfer zum Täter in zwei Wochen, so schnell kann es gehen.

Und der trifft das Dilemma recht gut, abgesehen davon, dass die Beweislast tatsächlich bei dem liegt, der etwas behauptet. Weiter schreibt die Autorin:

Auf Videoaufnahmen, die die „Bild“-Zeitung am Sonntag veröffentlicht hat, ist Ofarim vor dem Hotel und im Hotel ohne sichtbare Kette zu sehen. Er behauptet, er habe sie getragen, er sei sich aber nicht mehr sicher, ob über oder unter dem T-Shirt. Der antisemitische Vorfall habe sich unabhängig davon so zugetragen, wie er es bei Instagram bekannt machte.

Die Autorin sieht das genauso, ist der festen Überzeugung, dass Ofarim ein Opfer sei, daran sei nichts zu ändern. Und das, obwohl die Sichtbarkeit der Kette eine durchaus wichtige Rolle bei Ofarims Version der Geschichte spielt.

Wenn dann aber plötzlich ein Jude kommt und sich wehrt, muss er mit scharfem Gegenwind rechnen. Und egal wie sich die Sache weiterentwickelt, an Gil Ofarim wird ein Makel haften bleiben. Wie sollen weniger prominente Juden in Deutschland noch den Mut finden, antisemitische Straftaten anzuzeigen oder öffentlich zu machen, wenn ihnen am Ende doch nicht geglaubt wird?

Man könnte erwidern: Wie sollen weniger prominente Juden in Deutschland antisemitische Straftaten öffentlich machen, wenn zuvor ein anderer Jude sich eine solche Tat nur ausgedacht hat? Und warum soll man Ofarim ohne Wenn und Aber glauben, obwohl doch seine Geschichte auf mehr als tönernen Füßen steht? Eine solche Erwiderung wäre nicht weniger gerechtfertigt (oder eben nicht weniger ungerechtfertigt) als die Stellungnahme der Autorin.

Wie schon oben erwähnt, geht es mir hier nicht um die Frage, ob Ofarim gelogen hat oder nicht, ich weiß es ja nicht mit Sicherheit. Die Autorin allerdings auch nicht, daher ist ihre Parteinahme mehr als merkwürdig.

Und zwar aus einem einfachen Grund: Nehmen wir einmal hypothetisch an, Ofarims Geschichte stimmt tatsächlich nicht. Was folgt daraus?

Täter bleibt Täter

Angenommen also, Ofarims Story entsprang ausschließlich seiner Fantasie. Vielleicht hatte er Ärger im Hotel (wahrscheinlich sogar), aber die Sache mit der Kette ist ausgedacht. In diesem Fall hätten wir ein anderes Opfer, nämlich den Hotelangestellten, dem eine antisemitische Scheußlichkeit unterstellt wurde, genauer: angedichtet wurde.

Glaubt man einfach aus Prinzip Ofarim und verfolgt die Sache nicht weiter, weil er ja ein Jude und Antisemitismus in Deutschland ohnehin ein Problem ist (was fraglos stimmt), hat das für den Hotelangestellten mit Sicherheit fatale Konsequenzen. Antisemitismus gehört zu Recht zu den übelsten Dingen, die einem vorgeworfen werden können, ohne hier konkrete Vergleiche mit anderen Straftaten anzustellen.

Wir alle nehmen Ofarim also jetzt hypothetisch seine Version der Geschichte ab. Der Hotelangestellte hat garantiert die längste Zeit als Hotelangestellter gearbeitet. Und wer weiß, was ihm noch alles droht, da der Fall ja auch öffentlich wurde. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis irgendwie herauskommt, wie der Hotelangestellte heißt, wo er wohnt und wer seine Familie ist.

Den Rest können wir uns ausmalen. Wenn er Glück hat, wächst Gras über die Sache, vielleicht findet er einen neuen Job. Wenn er Pech hat, steht ihm seine „Tat“ groß auf die Stirn geschrieben, was seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt erheblich verschlechtert. Wenn er noch mehr Pech hat, muss er mit öffentlichen und nicht-öffentlichen Anfeindungen rechnen, und wenn es richtig übel kommt, wird er angegriffen, verletzt oder gar getötet.

Das sind denkbare Szenarien, die kaum zu leugnen sind.

Gut im Geschäft?

Es ist natürlich reine Spekulation, dass Ofarim womöglich nur eine Nummer abgezogen hat, um an Aufmerksamkeit zu gewinnen. Mir persönlich jedenfalls war er vorher nicht bekannt, jetzt aber wird es wohl kaum jemanden geben, der seinen Namen nicht kennt.

Doch bleiben wir bei der guten, alten Ermittlungsarbeit (manche nennen sie auch „Verschwörungstheorien“), nach der man in einem solchen Fall alle Möglichkeiten durchspielen muss, um am Ende das zu erhalten, was als einzige Option für den Tathergang übrigbleibt. So sollte man vernünftigerweise vorgehen, denn letztlich handelt es sich hier um einen klassischen Fall dessen, was man „Aussage gegen Aussage“ nennt.

Gepaart wird die Ermittlungsarbeit durch Videoaufnahmen, Zeugenaussagen, den Aussagen der Betroffenen und Fotos, die das Bild vervollständigen. Nehmen wir also zusammen, was wir bisher haben, ist die Geschichte zumindest nicht aufgeklärt. Und so lange das so ist, wäre es sowohl gegenüber Ofarim als auch dem Hotelangestellten nicht fair, ein verfrühtes Urteil zu fällen.

Im Falle des Hotelangestellten ist dies aber in der breiten Öffentlichkeit eben doch geschehen. Politik, Medien und sämtliche „Ermittler“ der sozialen Medien hatten den Fall schnell aufgeklärt. Und wo der alte Trenchcoat-Fan Columbo noch „eine letzte Frage“ gehabt hätte (die Älteren werden sich erinnern), hat der Freizeit-Kommissar des Jahres 2021 den Fall längst aufgeklärt.

Bloß nichts durcheinanderbringen!

Es geht hier nicht in erster Linie um Antisemitismus, sondern um eine Tat, von der die eine Seite behauptet, sie habe stattgefunden, während die andere genau das vehement abstreitet. Wer nun auf dem Standpunkt steht, die Wahrheit könne nur die Version von Gil Ofarim sein, der begibt sich auf dünnes Eis. Hätten wir es statt mit den beiden Beteiligten Ofarim und dem Hotelangestellten mit zwei hochintelligenten Pinguinen zu tun, die einen ähnlichen Konflikt austragen würden, wäre unsere erste Reaktion wohl die, dass man erst einmal klären muss, wessen Geschichte stimmt. Zunächst einmal würde man aber naturgemäß (hoffentlich!) beide Pinguine gleichbehandeln.

Es ergibt keinen Sinn, in diesem Fall anders zu verfahren. Es besteht die Möglichkeit, dass Ofarims Fassung des Vorfalls stimmt, es besteht aber für Außenstehende die ebenso große Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenseite die Wahrheit sagt. Wir haben hier also eine ausgeglichene Situation.

Oder eben doch nicht. Weil der Vorwurf des Antisemitismus scheinbar meist reflexartig eine Parteinahme zur Folge hat, die man jedoch losgelöst von den Fakten bewerten muss. Wenn der eine von zwei Kontrahenten mir sympathisch ist oder ich aus anderen Gründen in seine Richtung tendiere, kann ich nicht neutral beurteilen, wer von beiden recht hat. Agiere ich vernunftgeleitet, halte ich mich in diesem Fall besser raus. Daher bleibe ich auch bei meiner Annahme, dass beide Versionen stimmen könnten. Aufgrund der Entwicklung der letzten zwei Wochen neige ich zwar inzwischen eher zur Ansicht, dass Ofarim zumindest nicht die ganze Geschichte erzählt hat, aber das ist das höchste der Gefühle, und es steht mir nach wie vor nicht zu, den Fall abschließend zu bewerten.

Die Autorin, die bereits oben zitiert wurde, schließt ihren Artikel (der vom 18.10.21 stammt) übrigens mit einem Satz, zu dem ich sehr wohl eine sehr konkrete Meinung habe:

Am Ende ist die Causa Ofarim ein Lehrbeispiel in Sachen Antisemitismus in Deutschland. Und das zeigt eines deutlich: Wir haben aus der Geschichte offenbar nichts gelernt.

Ohne Frage ist der Antisemitismus nach wie vor ein Problem in Deutschland, auch befeuert von Seiten, die sich gern als Kämpfer gegen Antisemitismus sehen wollen.

Meine Schlussfolgerung ist aber in diesem speziellen Fall eine andere: Wenn wir nur aufgrund einer Behauptung Menschen schuldig sprechen, ohne dafür Belege zu haben, wenn wir also vorverurteilen ohne jeden Beweis, dann haben wir tatsächlich aus der Geschichte nichts gelernt.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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