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Gesellschaft, die keine mehr ist

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Die Gesellschaft erlebt eine massive Spaltung. Wie soll da jemals noch Gemeinsinn entstehen? Wie Rücksicht genommen werden? Man spürt im öffentlichen Leben, dass diese Qualitäten schwinden. Auch an sich – an mir – selbst.

In einem meiner letzten Texte habe ich davor gewarnt: Je länger diese Spaltung läuft, desto sicherer ist es, dass ich für diesen Staat, seinen Insitutionen und alles, was so am Staatswesen hängt, verloren bin. Im Gespräch mit meinem Umfeld habe ich das oft wiederholt und konkretisiert. Für einen etwaigen Gemeinsinn, so sagte ich unter anderem, wird man mich gar nicht mehr rekrutieren können. Welche Gemeinsamkeit könnte ich denn mit Menschen haben, die bereitwillig in eine Segregation marschieren? Welcher Zeitung kann ich noch glauben? Welche Partei wählen? Da droht ein Rückzug ins Biedermeierliche – aus Gründen des Ekels und der Abscheu. So vereinsamt man als Staatsbürger.

Dass dieser Effekt so schnell eintreten könnte, habe ich dann doch nicht erwartet. Das hat mich zugegeben selbst überrascht. Aber anderthalb Jahre Entsolidarisierung (die man uns unter der false flag der Solidarität verkaufte), haben wohl gewirkt. Ich war neulich in einer Drogerie. Stand da an der Kasse und bekam nur mit, wie ein großer, arabisch aussehender Mann verbal auf eine zwei Köpfe kleinere Frau eindrosch. Er nannte sie »Fotze«, stellte Schläge in Aussicht und sie möge ihn jetzt in Ruhe lassen, sonst »gebe isch dir auf die Fresse, isch schwör«. In anderen Zeiten hätte ich mich vielleicht solidarisiert.

Ich stand nur da und habe geguckt

Habe ich diesmal jedoch nicht. Die Kassiererin hat es beendet. Sie nahm seine Waren vom Band und erklärte ihm, für ihn gäbe es hier nichts mehr zu tun. Das hat sie gut gemacht. Dann fragte eine Kollegin nach, was denn geschehen sei. Alle waren sie schrecklich aufgebracht. Die Kundin habe wohl Abstand eingefordert, dann sei er ausgerastet, erklärte die Kassiererin. Komisch, die Frau stand hinter ihm an der Kasse – sie hätte ja Abstand halten können, dachte ich mir. Hat sie wohl nicht. Sie stand ja recht nahe bei ihm. Keine Ahnung, was da genau lief – geht mich auch nichts an. Jedenfalls ich stand nur da und habe geguckt. Die Kassiererin schaute dann in meine Richtung und sagte empört und laut, dass ja so viele Männer hier seien, aber keiner was sage. Sie hatte recht. Ich habe nichts gesagt. Unrecht hatte sie damit, dass viele Männer anwesend waren. Da war kein Kerl außer mir da. Andererseits sind Frauen heute ja emanzipiert, einen starken Mann brauchen sie eh nicht mehr.

Aber auch nach ihrem Angriff auf die Männlichkeit habe ich nichts gesagt. Ich wollte nur meine Waren bezahlen und raus. Während der Kerl die Frau runtermachte, dachte ich mir nur: Wenn er die jetzt haut, muss ich hier vermutlich noch länger stehen bleiben – dann lege ich die Waren lieber gleich weg und gehe woanders einkaufen. Es war mir, ich gebe es offen zu, scheißegal, was da geschieht, wer schuld war, wer anfing und ob ich als Mann versagt habe. Es interessierte mich nicht die Bohne. Im Zweifelsfall haben alle Schuld an der Eskalation. Aber es ist nicht mein Problem. Da halte ich mich völlig raus. Ich will nur raus, die Maske abnehmen, atmen, nach Hause, weg von all diesen Menschen.

Und das, geneigte Leserschaft, ist neu für mich. So war ich nie. Ich hätte mich solidarisiert, hätte gebremst. Auf den Spruch der Kassiererin von wegen Männer und so, hätte ich mindestens was Zynisches geantwortet. Aber ich war wie gelähmt, wollte mit nichts zu tun haben. Ich war wie einer dieser Zombies, die ich früher immer für so unbegreiflich hielt. Die mit nichts zu tun haben wollten, lieber in ihr Handy glotzen, wegschauen wenn es nötig ist und die Flucht ergreifen, wenn es brenzlig wird. Und das nicht, weil ich feige bin – sondern weil es mich einfach nicht mehr interessiert. Sollen sie sich doch was auf die Schnauze geben: Was geht mich das denn eigentlich an?

There’s no such thing as society

Gemeinsinn bedeutete für mich einst auch, dass man eben genau in solchen Momenten aufsteht und im Sinne einer friedlichen Gesellschaft auftritt, ja das Schlimmste verhindert. Zivilcourage ist gelebter Gemeinsinn im Alltag, könnte man insofern definieren. Es ist eine miese Entwicklung, wenn man dafür keine Energie, keinen Sinn mehr aufbringt.

Aber in dem Szenario wirkten alle auf mich fremd, wie die Protagonisten einer Szene, in der alle durchdrehen – irgendwie habe ich mich darin gar nicht wiedergefunden. Was da geschah, war auch ein bisschen Spiegelbild der Gesellschaft für mich. Alles verroht, geht sich an, droht, belehrt und am Ende steht da jemand und moralisiert. Eben die Kassiererin, die mich als Lösung eines Problems ausmachte, das ich ganz offensichtlich nicht als meines erachtete. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, hat ja neulich erst die Verrohung im öffentlichen Leben angemahnt. Natürlich hat er nur von den Querdenkern gesprochen, die dieser Entwicklung Vorschub leisten würden. Dem ist aber nicht so. Nicht grundsätzlich. Natürlich sind manche von denen auch aggressiv, keine Frage. Aber eben auch Politiker, Publizisten, Journalisten, Nachbarn, Sportfreunde, Arbeitskollegen und Mitreisende. Gauck hat Leute wie mich bekloppt genannt. Was habe ich dem alten Heuchelpastor eigentlich getan? Fast alle sind mit diesem Virus der Aggression infiziert. Es ist das einzige Virus im Moment, das wirklich überall andockt.

Ich hasse den Spruch, den ich als letzte Zwischenüberschrift gewählt habe. Er stammt von Margaret Thatcher. Sie meinte das damals auch anders. Ihr ging es darum, mit solchen Beschreibungen den Gemeinsinn zu dekonstruieren, ihn intellektuell lächerlich zu machen. Aber in die heutige Zeit, in diese Ära, in der man viel von Solidarität spricht, aber eigentlich Entsolidarisierung forciert, passt er einfach zu gut. Sowas wie Gesellschaft scheint es gar nicht mehr zu geben. Da sind nur »individual men and women and there are families«, wie die rostige Lady damals weiter ausführte. Und genau so verspüre ich das im Moment: Auf uns gucken, auf die, die mir lieb sind, Frau, Kind, einige Bekannte, Freunde. Hier und da ein geneigter Leser oder Leserin. Aber für mehr Nächstenliebe fehlt mir dann doch die Phantasie.

Eine Pandemie als Brandbeschleuniger

Nicht ich habe mich von der Gesellschaft entfremdet, sondern die Gesellschaft sich von mir. Dieser markige Spruch stimmt sicherlich nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt innerhalb der Pandemie. In den letzten Wochen habe auch ich mich von der Gesellschaft wegentwickelt. Je mehr Druck ausgeübt wird, je moralischer die Spielfiguren des pandemischen Schaufensters auftraten, desto mehr wandte ich mich ab. Man könnte diese Abkehr auch ganz einfach Selbstschutz nennen. Sicherlich ist aber auch viel Trotz darin. Ich fühle mich kriminalisiert. Weil ich nicht (vielleicht auch noch nicht, der Druck nimmt stark zu) geimpft bin. Vorher fühlte ich mich auch schon so, weil ich den Lockdown falsch fand und manche unmenschliche, ja herzlose Maßnahme des Seuchenschutzes beanstandete. Wer das laut sagte, machte sich verdächtig – ich hielt die Kritik für mein demokratisches Recht.

»Demokratie wird durch Kritik geradezu definiert«, hat Marcel Reich-Ranicki mal festgestellt. Der Kritiker war in seinen Augen ein Demokrat, weil er sich das Recht herausnahm, Dinge zu bewerten, weil er die Willkür – bei ihm die der Literaten – einschränkt. Kritik sei gewissermaßen Gewaltenteilung, erklärte er. Aber das haben wir in den letzten anderthalb Jahren verloren. Schon vorher war die Tendenz so, dass man kritische Charaktere als Miesepeter deklarierte, man wollte sie nicht da haben, schloss sie aus, machte sie gesellschaftlich unmöglich. Aber in der Pandemie erstrahlte dieser Vorsatz in neuer Blüte. Jetzt war der Kritiker nicht einfach nur eine liederliche Gestalt, die keiner mag – jetzt war er Gefährder, potenziell ein Mörder, dem man zutrauen musste, Großvater über die Klinge springen zu lassen.

Wie soll man sich bitte zu einer Gesellschaft, die eine solche Entwicklung nimmt, ein gutes Verhältnis bewahren? Sicherlich weiß ich, dass man dem entgegenwirken muss, gerade jetzt ist es wahrscheinlich wichtig, die letzte Kohäsion zu sein, die es noch gibt. Gemeinsinn zu leben, wo er verwirkt hat. Aber das sind fromme Sprüche, Praktikansätze von Heiligen. Ich bin aber kein Heiliger, sehe kein konstruktives Element mehr in der Art, wie wir hier und jetzt zusammenleben. Da ist nur Destruktives – und mich zieht dieses zerstörerische Gefühl mit in einen Abgrund, wo es sowas wie Gesellschaft gar nicht mehr gibt. Und vermutlich geht es vielen so – mehr oder weniger. Vielleicht ist diese Lebenserfahrung ja eines Tages ja etwas wert und man kann darauf aufbauen – wir alle zusammen.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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