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Alter weißer Bub

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Keigo Oyamada war wegen des Mobbings von behinderten Kindern in seiner Schulzeit als Komponist für die olympische Eröffnungsfeier zurückgetreten. Er habe »andere verletzt« entschuldigte er sich. Dass das Jahre her ist, spielte bei der Entscheidung offenbar keine Rolle.

Schön ist es schon, wenn Menschen einsichtig sind, wenn sie Fehler zugeben können. Das bedarf einer gewissen Größe. Und groß sind fürwahr nicht alle. Die Frage ist nur, ob man es mit dieser Haltung, seine eigene Größe zur Schau zu stellen nicht auch übertreiben kann. Nehmen wir nur mal den oben genannten japanischen Komponisten, der außerhalb Japans auch als Cornelius bekannt ist. Der ist Jahrgang 1969 und hat in einem Interview erzählt, er habe in seiner Schulzeit behinderte Kinder gemobbt.

Zunächst soll er nicht genug Reue gezeigt haben, hieß es in der japanischen Öffentlichkeit. Dann entschuldigte er sich und das olympische Komitee befand, dass da ja jetzt Reue zu spüren gewesen sei. Am Ende trat er trotzdem als Komponist der Eröffnungsfeier zurück. Der Vorfall ist Jahre her. Er war vermutlich ein Kind. Schlechte Taten verjähren auch mal. Menschen entwickeln sich weiter. Sie können doch nicht ewig büßen. Nach Selbstanklagen scheint die Opferbereitschaft besonders hoch zu sein. Wenn man sein eigener Richter ist, straft man sich in diesen Tagen offenbar besonders gerne mit masochistischer Wonne.

Von Monstern …

Ich rücke lieber gleich raus mit der Sprache. Vor Jahren habe ich schon mal darüber berichtet. Vielleicht sollte ich es wieder tun, damit alles auf dem Tisch liegt, wenn aus mir mal doch was Gescheites wird. Es geht um Kerstin. Um eine Mitschülerin. Das schreibe ich hier so leicht: Mitschülerin. Für sie waren wir Monster, die dummerweise in derselben Klasse hockten wie sie.

Sie zogen sie an den Haaren, rissen an ihrem Pullover, entwendeten ihr die Brille, warfen ihr Federmäppchen quer durchs Zimmer. Immer wenn unsere debile Lehrerin den Raum verließ, stürzten sie sich auf sie. Mit leisem Gebrüll. Bereit alles an Niedertracht zu geben, was in ihnen steckte. Kerstin heulte leise vor sich hin, hielt aus, muckte nie auf, wischte sich die Tränen von den Wangen. Ich habe das Mädchen keine drei Sätze sprechen hören – und das in drei oder vier Schuljahren. Das war nicht bloß Mobbing, das war die systematische Zerstörung einer Kindheit. Jede freie Minute ohne Aufsicht der Lehrkraft, war nicht eine gewonnene Minute an Lebensqualität, wie bei uns anderen Kindern. Bei ihr war es eine weitere Zeiteinheit ihres Martyriums.

Kerstin stammte offenbar aus schwierigem Elternhaus. Sie war nicht sehr modisch angezogen. Die Brille war groß und bieder, wie ein Gestell aus den Siebzigern. Die Haare strähnig. Sie war eine Einzelgängerin. Und schon gar keine Schönheit. Aber wer ist das schon? Schönheit wird überschätzt. Nach vielen Jahren der Qual war sie plötzlich weg. Keiner wusste wohin. Sie erschien nicht mehr im Unterricht. Auch Nachfragen bei der Lehrerin halfen nichts. Ich denke noch oft an sie. Lebt sie noch? Leidet sie noch heute darunter?

und Mitläufern

Ich schrieb, »sie zogen an den Haaren«: Da hielt ich mich vornehm zurück. Das taten andere. Aber ich lachte. Laut. Feist. Es war, als sehe man dabei zu, wie einer Fliege langsam die Beine ausgerissen werden. Irgendwie – man entschuldige meine Offenheit – faszinierend. Wer ist eigentlich schlimmer: Der Peiniger oder der, der zuschaut, schweigt oder gar lacht und so anstachelt?

Sicher, ich war ein Kind, wie wir alle damals. Wie man moralisch und integer auftritt, davon hatte ich noch gar keine Ahnung. In besinnlicheren Stunden meiner Kindheit tat mir der Anblick von Kerstin irgendwie und unerklärlicherweise weh. Woher kam dieser Schmerz? Und wie konnte ich mich unterstehen, über so eine Behandlung zu lachen? Bis heute tut es mir weh, den Anblick dieses verlassenen Mädchens in meinen Erinnerungen abzurufen.

Jetzt liegt die Leiche im Keller meines Moralismus auf dem Tisch. Wenn ich schreibe, dass Kinder nun mal so sind, meine ich das nicht in der Art, dass man das eben hinnehmen müsse. Sicherlich nicht. Wo war eigentlich Frau Lehrerin? Ich erinnere mich, wie sie Kerstin anschrie, weil sie im Unterricht, als sie aufgerufen wurde, keinen Ton hervorbrachte. Wie hätte das Mädchen laut sprechen wollen, mitten unter ihren Häschern? An einen Sache erinnere ich mich aber auch: Wir bekamen ein neues Mädchen in die Klasse. Kurze Zeit entschloss sich der Klassenverband, sie zu malträtieren. Kerstin machte nicht mit, aber ihr lachendes Gesicht, ich sehe es noch vor mir. Vermutlich war sie erleichtert, sie hoffte den Kelch weitergegeben zu haben. Leben ist brutal, man hofft halt immer, dass es andere trifft und nicht einen selber. Das lernen schon Kinder.

Resozialisierung und Weiterentwicklung: Im woken Moralismus nicht vorgesehen

Dennoch, bei aller Scham, auch wenn es mir nach wie vor leidtut, der Weg der woken Selbstanklage, der mit Rücktritt aus Gründen moralischer Verfehlung vor langer Lebenszeit glaubt, ein Zeichen setzen zu können, halte ich für Unsinn. In dieser schönen neuen moralischen Welt bleibt nämlich auf diese Weise alles unverzeihlich und Menschen büßen auf alle Zeit für ihre Taten. Doch man verändert sich, auch aus seinen Untaten lernt man, ist nicht mehr der Mensch, der man 1988 oder 1990 noch war.

Dahinter steckt eigentlich das bewährte Motiv der Resozialisierung. Die setzt voraus, dass man niemals in denselben Fluß steigt – weil der Fluß fließt und man selbst auch auch altert, als sich stets erneuerter Zellhaufen ins Nass steigt. Das ist im Grunde eine Binsenweisheit. Aber vermutlich muss man sie heute hin und wieder zur Sprache bringen. Denn ständig liest man davon, wie Menschen – meist prominente Menschen -, für etwas bestraft werden, was lange her ist. Manchmal sind es auch nur Vorwürfe, die sich gar nicht mehr beleuchten lassen. Man denke nur an Kevin Spacey, der in jungen Jahren junge Männer belästigt haben soll, was aber erst Jahrzehnte später publik wurde. Seitdem engagiert ihn kein Hollywood-Studio mehr. Auch wenn der Schauspieler sicherlich nicht vor dem finanziellen Ruin steht: So ein Vorgehen scheint mir dennoch nicht richtig zu sein.

Eigentlich sind solche Reaktionen eines Rechtsstaates nicht würdig. Wobei man sagen muss, dass der Eifer der Wokeness mir nicht unbedingt dafür bekannt zu sein scheint, den Rechtsstaat als Errungenschaft zu sehen. Eher im Gegenteil, er findet ihn lästig, falsch aufgezäumt. Mir kommt Alice Schwarzer in den Sinn, die vor Jahren eine Beweislastumkehr vor Gericht forderte: Wenn eine Frau sagt, ein Mann habe sie missbraucht, soll der Angeklagte per se schuldig sein, bis er beweisen kann, dass er es nicht ist. Männer sind halt toxisch – schon als Buben, wie ich damals. Die größten Peiniger von Kerstin waren übrigens Peinigerinnen. Ich kenne sogar noch ihre Namen, gebe sie aber nicht heraus …

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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