Sag mal, liebe Leserin, lieber Leser: Bist du eigentlich geimpft? Hat man euch das zuletzt nicht auch öfter mal gefragt? Mir ist so, als fragt das doch jetzt alle Welt. Klar, ich halte diese Frage wie ihr ja auch für übergriffig. Was kommt eigentlich als nächstes: Will man wissen, ob ich beschnitten bin?
Die Frage ist in aller Munde: Sind Sie geimpft? Nicht, dass man das von medizinischen Fachpersonal bei einer medizinischen Untersuchung gefragt würde. Nein, im ganz normalen Alltag drängen sie einem diese Frage jetzt auf. Neulich saß mir ein alter Mann gegenüber: Im bürgerlichen Job. Der fragte mich das ganz unvermittelt. Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?, konterte ich. Wie übergriffig kann man denn sein? Ich kannte den Alten doch gar nicht. Was hätte er davon, das über mich zu wissen?
Es ist erst eine Woche her, da klingelte Steven bei uns. Steven bringt uns einmal die Woche das beim Asiaten bestellte Essen. Mittlerweile kennen wir uns ein bisschen, Steven ist eine coole Socke. Ich mag ihn, auch wenn ich ihn zugegeben nicht immer verstehe. Er ist Asiate, ich weiß gar nicht genau woher. Steven spricht nicht so gut Deutsch – oder sagen wir so: Er spricht es schwer verständlich. Letzte Woche bringt er uns also die Kaltfischhäppchen, lobt die bunten Hemden, die ich bevorzugt trage und landet direkt bei der Frage aller Fragen: Bist du geimpft? Ach Steven! Ich habe verneint. Böse bin ich ihm nicht: Aber warum zum Henker fragt man denn sowas? Ich hätte Steven viel fragen wollen, aber nie, ob er sich Vakzine spritzen lässt oder nicht. Was geht mich das denn an?
Sind Sie intimrasiert?
Wir sind uns übrigens sicher: Steven heißt gar nicht Steven. Als wir uns irgendwann mal gegenseitig nach unseren Namen fragten, nannte er uns diesen. Wahrscheinlich trägt er einen asiatischen Namen, der schwer aussprechbar ist, weswegen ihn alle Welt Steven nennt. Aber ich käme nie auf die Idee, indiskret nachzubohren. Er hat einen Namen genannt, hat ihn sich vieleleicht bloß ausgesucht: Aber das gilt für mich. Ich fände eine Nachfrage übergriffig und grenzüberschreitend. Nennt mich altmodisch, aber so bin ich erzogen. Wenn man sich nicht gut kennt, akzeptiert man an Informationen über den anderen das, was er freiwillig preisgibt. Das mag wie gesagt antiquiert sein – aber auch anständig. Jedenfalls sehe ich das so.
Aber diese gute alte Vorstellung ist out. Heute fragt man nach. Will es ganz genau wissen: Bist du eigentlich geimpft? Und du, antworte ich dann, bist du eigentlich beschnitten? Wie, die Frage geht dir zu weit? Ist dir zu intim? Aber wieso denn? Jetzt, wo wir doch schon mal dabei sind, Tuchfühlung aufzunehmen, uns näherzukommen: Da kann man doch mal fragen, nicht wahr?
Nee, zu direkt? Na dann: Bist du eigentlich intimrasiert? Geht mich gar nichts an? Warum? Weil das deinen eigenen Bereich angeht, dein ureigenstes Areal ist? Wer wird denn bitte so kleinlich sein! Wird man doch mal fragen dürfen. Ich habe daran ja auch kein sexuelles Interesse. Nur ein informatives. Nur weil die Schamhaare an deinem Geschlechtsteil sprießen, heißt das ja noch lange nicht, dass es nicht auch ein interessantes Sujet für andere sein kann. Was bist du auch verklemmt, ehrlich wahr! Mach dich mal locker!
Wieso? Weil wir in Zeiten leben, da dein Körper nur bedingt dir gehört. Bei der Organspende ging es los. Widerspruchslösung: Dein Körper gehört allen, bis du Ansprüche anmeldest. Wer diese Praxis kritisierte, musste sich schon mal als Fortschrittsverweigerer betiteln lassen. Das sei doch ein guter Lösungsansatz für eine gute Sache, hieß es. Aber das trifft ja nicht die Problematik. In den Siebzigern konnten Menschen mit Gebärmutter noch erklären, dass ihr Bauch ihr Bauch sei. Heute ist das schwieriger. Und in der Pandemie hat diese Tendenz an Fahrt gewonnen.
Dein Körper ist Allgemeingut
Denn unser aller Körper ist seit Monaten mehr als die natürliche Erscheinungsform unserer Spezies: Er ist eine Biowaffe. Eine Gefahrenquelle, der man mit allerlei Maßnahmen begegnen muss. Mund und Nase gehören keinem mehr alleine. Sie sind der Schlund zur Allmende, die Pforte zum Allgemeingut. Man verfügt Bedeckung oder das Eindringen mit Wattestäbchen, je nachdem, was gerade opportun ist. Zögerliche Nachfrage, ob man selbst auch noch ein kleines Wörtchen mitzureden hat … ach, entschuldigen Sie, natürlich nicht, wir wollten niemand stören; Frage beantwortet, na klar, wir wollten gar nicht widersprechen, herzlichen Dank auch …
Daher ist es auch ganz normal, dass man jetzt hier und da gefragt wird, ob man schon geimpft ist. Man hat sich daran gewöhnt, dass der Nächste nicht einfach nur der Mensch in nächster Nähe ist, sondern jemand, dessen Körperlichkeit mich angeht. Wir gehören uns alle gegenseitig. Ich dir, du mir und wir uns.
Einen Impfzwang gibt es natürlich nicht. Den braucht es auch gar nicht. Je mehr wir in diesen kruden Körperkommunismus abdriften, in dem wir unsere Selbstverwaltung der Körperlichkeit aufgeben, um sie gegen eine fürsorgliche Belagerung einzutauschen, desto etablierter die Rückfrage nach der Impfung. Rechts- und Körperempfinden von einst: Kümmert nicht mehr, das ist Ballast, hinfort damit. Du gehörst jetzt mir!
Daher antworte: Bist du geimpft, beschnitten und intimrasiert? Wie oft vögelst du eigentlich? Was macht der Stuhlgang? Sag es mir – sag es uns. Auch wenn es dir unangenehm ist, dass dir jemand so auf die Pelle rückt. Das musst du jetzt aushalten können. Wir müssen in dieser Zeit doch alle Opfer bringen. Auch du, du Opfer. Übergriffigkeit als Tatvorwurf: Das gilt nicht mehr. Der Übergriff oder der Eingriff sind jetzt oberste Staats- und Bürgerpflicht. Dass einen etwas gar nichts mehr anginge: Das mag in normalen Zeiten eine Ausflucht sein. Aber heute doch nicht. Heute muss uns alle alles angehen. Ganz besonders der Mitmensch, das Leben der Anderen, seine Privates.