In einer perfekten Welt hat die Bundesregierung im Wesentlichen ein Ziel vor Augen: Die Verfassung und somit die Menschen zu schützen, und zwar mit allen Mitteln, die das ermöglichen. Wie gesagt – in einer perfekten Welt.
Jetzt kann man Nächte darüber diskutieren, wie eine perfekte Welt denn aussehen könnte. Zu einem endgültigen Ergebnis würde man natürlich trotzdem nicht kommen. Es braucht aber deutlich weniger Zeit, um die Frage zu beantworten, inwieweit die Bundesregierung jetzt, in dieser Krise, zur Verfassung steht.
Denn das sieht gar nicht gut aus. Gemeinsam mit (fast) allen anderen Parteien werden Grundrechte ausradiert, als seien sie Preisschilder, die ausgetauscht werden. Wie „Gegenwehr“ aussieht, zeigt zum Beispiel die SPD, wenn sie mutig fordert, in Zukunft auch zwei Leute aus einem Haushalt nachts nach draußen gehen zu lassen. Mit anderen Worten: Ausgangssperre ja, klar, kein Problem. Aber unter „sozialdemokratischen“ Bedingungen.
Aerosolexperten, die darauf hinweisen, dass Infektionen am ehesten in geschlossenen Räumen ein Problem sein können, im Freien aber weitgehend bedeutungslos sind, entgegnen Kanzlerin und ihre Komplizen: Ihr habt ja recht, Experten, aber wir müssen die Mobilität einschränken, weil immer wieder kleine Treffen oder sogar größere Partys stattfinden. Von den Unvernünftigen, Ihr wisst schon.
Nun könnte man fragen: Mal angenommen, diese „Unvernünftigen“ bewegen sich im Bereich 10.000 bis – wir sind großzügig – 50.000 Leute. Die essen abends zusammen oder feiern in der Nacht. Ist es dann angemessen, dafür 83 Millionen Menschen zu bestrafen und einzusperren?
In einer mehr oder weniger perfekten Welt würde die Antwort lauten: „Nein, Sie haben recht, das steht in keinem Verhältnis zur Wirkung. Wir lassen das besser.“
In einer mehr oder weniger perfekten Welt.
Tatsächlich aber ignoriert die Bundesregierung (und fast alle anderen Parteien ebenfalls) jedes Argument, sei es durch gesunden Menschenverstand transportiert oder von Juristen vorgetragen, mit einer Ignoranz, die kaum in Worte zu fassen ist.
Der Wissenschaftliche Dienst mahnt
Hoffnung? Scheint es derzeit keine zu geben. Selbst der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat Bedenken angemeldet. Und zwar verfassungsrechtlicher Art. Noch einmal, zum Mitschreiben: der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages! Die FDP hat Verfassungsklagen angekündigt, um zumindest die Ausgangssperre zu verhindern – was freilich unrealistisch ist, denn bis das Bundesverfassungsgericht hier eine Entscheidung fällt, steht in den Sternen. Jedenfalls kann es so lange dauern, dass fraglich ist, ob die Sternenkonstellation bis dahin noch die von heute ist.
Der Wissenschaftliche Dienst hat aber noch ein anderes Problem. Er bemängelt, dass die Ausgangssperren auch für Geimpfte gelten soll. Das gehe nicht, sagt der Dienst, denn Geimpfte dürften nicht in die massiven Grundrechtseingriffe einbezogen werden. Und damit sind wir wieder an dem Punkt, der das ganze Drama auszeichnet.
Denn (fast) alle Parteien sind sich einig, dass die Grundrechte nach Lust und Laune ausgehebelt werden können, solange es nur dem Schutz der Gesundheit diene. Die Frage, ob das auch für Geimpfte gelten soll, schießt am Ziel vorbei, denn die Frage von Grundrechten ist eine grundsätzliche, die man nicht mal eben so vom Tisch wischen darf. Oder eben doch, denn auf der politischen Ebene stellt sich diese Frage offenbar gar nicht. Es wird gemacht, so einfach ist das.
Was wir erleben, ist also – auch wenn es den Anschein machen soll – keine Debatte darüber, ob das Infektionsschutzgesetz einmal mehr geändert und verschärft wird. Diskutiert wird lediglich, wie scharf die Änderungen sein sollen. Eine grundlegende Debatte findet faktisch nicht statt.
Das wirklich Traurige an dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass offenbar viele Bürger ihre Grundrechte mit dem größten Vergnügen abgeben wollen, wenn es denn dem „guten Zweck“ dient. Die wenigen Mahner, die einwerfen, dass die Gefahr bestehe, nicht wieder zurück zum alten Zustand zu kommen, werden als Verschwörungstheoretiker verunglimpft, die ohnehin „fragwürdig“ sind.
Ich frage mich langsam, ob die Deutschen so etwas wie ein Grundgesetz überhaupt verdient haben. Viele von ihnen winken ab, wenn es um die Verbrechen des Nationalsozialismus geht. Sie hätten damit nichts zu tun, und irgendwann sei es ja auch mal gut mit dem ewigen Erinnern.
Ganz abgesehen davon, dass diese Haltung respektlos und menschenverachtend ist – wenn die Grundrechte erst einmal verschwunden sind, wird bis auf Weiteres niemand sagen können, er habe davon nichts gewusst. Und es wird lange dauern, bis irgendwann wieder jemand sagen kann: Damit hatte ich nichts zu tun.