Der als Mega-Lockdown titulierte letzte Höhepunkt der Einschränkungsorgie, stellt einen Paradigmenwechsel in der bislang betriebenen Lockdown-Politik dar.
Etwas war anders an dieser neuen Verschärfungsrunde. Es wurde im Vorfeld über die tiefsten denkbaren Einschnitte gesprochen – und das, während die Zahlen bereits etwas abflauten. Im Laufe der Berichterstattung vor der letzten Ministerpräsidentenkonferenz schwenkte man dann auch um. Nun ging es weniger um das aktuelle Infektionsgeschehen an sich als um eines, das uns drohen könnte: Das mutierte Virus sei nämlich die nächste Katastrophe, weil vermeintlich schneller übertragbar. Ganz sicher ist man sich aber noch nicht. Zunächst hieß es ja auch, dass die Mutation weniger schwere Krankheitsverläufe verursache. Dennoch sah sich die Politik in der Pflicht: Um zukünftiges Leid zu vermeiden.
Der Verdachtslockdown
Diese neue Eskalationsstufe der Lockdown-Politik hat erstmals die Grundebene der Zahlenbasiertheit verlassen. Erstmalig ging es nicht mehr um Indizes, Zahlen und Werte: Zum ersten Mal begründete man weitere Maßnahmen mit einer vagen Aussicht, mit einem Umstand, der uns in Zukunft drohen könnte. Die Bundeskanzlerin erklärte das auch so im Nachgang. »Es geht um Vorsorge«, sagte sie.
Man mag ja von den jeweiligen Lockdown-Maßnahmen der letzten Zeit halten was man will. Und Kritik war und ist und bleibt sicher auch berechtigt: Alleine die Infektionszahlen waren als Gradmesser stets zu wenig. Über die Angemessenheit auf Zahlenbasis lässt sich ohnehin streiten. Zumal dann, wenn sie zur Verschleierung falscher politischer Maßnahmen von vor der Pandemie dient – Stichwort: Pflegekräftemangel zum Beispiel. Und ob ein Formelwert wie der Basisreproduktionswert auch außerhalb von Laboren und fachlichen Gesprächsrunden ein klares Abbild über die Wirklichkeit abgibt, darf trefflich bestritten werden. Aber bei aller Kritik griff man vorher noch auf etwas »Handfestes« zurück und fuchtelt nicht wie wild mit Perspektiven und Prognosen und Eventualitäten herum.
Man kennt das ja ein bisschen aus dem Krimi. Wenn jemand zur Polizei läuft und sagt, er vermute, dass ihm sein Nachbar was antun wolle. Der Beamte fragt, ob es Beweise gäbe und der Verängstigte verneint, es sei mehr so ein Gefühl. Dann könne er nicht handeln, antwortet der Beamte daraufhin. Und das potenzielle Opfer fragt empört, ob die Polizei denn erst handeln wolle, wenn es zu spät sei? Ob sie das erst dann will, kann man nicht beantworten – was man abee sagen kann: Sie muss es. Für sie gilt im Grunde das Nachsorgeprinzip. Auf Verdacht festnehmen: Mehr Polizeistaat ist kaum denkbar.
Dieses Vorsorgeprinzip ist brandgefährlich
So ein vorsorglicher Lockdown sei aber doch wirklich vernünftig, werden nun viele einwenden. Besser vorher reagieren als nachher. Vorsorge ist besser als Nachsorge: Die Redewendung kenne doch jeder. Das mag für einen selbst gelten, wenn er zur Vorsorgeuntersuchung geht. Oder auch als Spielregel für den Markt, wenn man Unternehmen reguliert, die ohne Absicherung irgendeinen Impfstoff auf den Markt werfen wollen. Okay, denken wir mal ausnahmsweise kurz mal nicht an BioNTech. An dieser Streitfrage über Vor- oder Nachsorge entzündete sich übrigens mancher Streit zum Freihandelsabkommen TTIP.
Als Schutzmodell für die Gesellschaft ist so ein Vorgehen aber völliger Wahnsinn. Wer auf Verdacht Grundrechte einschränkt, der findet zwangsläufig immer einen Verdachtsmoment, der zu Einschränkungen berechtigt.
Dieser Paradigmenwechsel beinhaltet mehr noch, als alles, was wir bislang in dieser Pandemie als Seuchenschutzmaßnahmepaket kannten, exakt das, was die Gesellschaft für Deutsche Sprache als eines der letztjährigen Unwörter deklarierte: Die Corona-Diktatur. Oder genauer gesagt: Die Gesundheitsdiktatur. Der Rückgriff auf etwas, was noch nicht geschehen ist, aber eventuell geschehen könnte, birgt brandgefährliches Potenzial. Es ermächtigt dazu, im Namen der versorglichen Fürsorge Grundrechte einzuschränken. Weitreichende Seuchenschutzmaßnahmen wie die, die man uns im Wochentakt serviert, können aber schlechterdings nur als Reaktion erfolgen. Wenn sie als Aktion eingeleitet werden, mag die Kanzlerin das den Menschen zwar als Vorsorge verkaufen, aber im Kern birgt das einen unüberprüfbaren, weil auf potenzielle Zukunftsszenarien basierenden Totalitätsaanspruch.