Wenn es einem hier nicht passt, kann man flüchten. Wenn es einem jetzt, in dieser Zeit nicht passt, hat man diese Option allerdings nicht. Über Orte und Zeiten, mit denen man fremdelt.
Flüchten. Einfach weggehen. Das geht immer noch physisch, von Ort zu Ort. Man sollte diese Möglichkeit nicht verachten. Kampf lohnt sich nicht immer. Ohne jetzt ein Hohelied auf die Flucht aus Syrien singen zu wollen, halte ich es mal bewusst kleiner: Wenn man zum Beispiel in einem Stadtteil lebt, der über Jahre von der Politik im Stich gelassen wurde, muss man ja nicht stur bleiben und glauben, dass die eigene Standhaftigkeit an Ort und Stelle etwas bewirkt. Sich räumlich zu verändern kann dann sinnvoller sein. Aber diesen Zeitgeist von früher, den man schätzte – und den man jetzt vermisst: Man kann ihn beschwören, über ihn reden, sich nach ihm sehnen. Das nennt man dann Nostalgie. Und die hat ihre Berechtigung.
Was aber, wenn Nostalgie nicht mehr reicht? Wenn man zurück will? Zeitreisen gibt es nicht – wird es nie geben, da lege ich mich fest. Das ist die eigentliche Tragik der menschlichen Existenz. Nicht, dass man altert, erschlafft, einen Körper hat, der von Jahr zu Jahr mehr streikt. Es ist der Umstand, dass man in der Gegenwart gefangen bleibt – eben auch, wenn sich diese Gegenwart als ein Ort hervortut, an – oder in – dem man nicht bleiben möchte. Widerstand ist zwecklos, Flucht unmöglich. Und so sitze ich in einer Zeit fest, in der es keine Gelassenheit mehr gibt, keine gesunde Gleichgültigkeit, no country for stoic men.
Hopp oder Top?
Neulich habe ich bei YouTube Retro-Videos von Spielshows gefunden, die ich mir als Junge reingezogen habe. Ich hing damals viel vor der Glotze. Den aktiven Fußball entdeckte ich erst mit Zwölf, im Zuge der Weltmeisterschaft in Italien. Der Titel der Nationalelf ließ mein Herz für diesen Sport klopfen. Was ich nie zugegeben hätte, ich war schon als Kind gegen »die Mannschaft« – das hatte ich von meinem Vater gelernt, der mochte die DFB-Elf nicht, da war er fanatisch. Davor gab es nur Fernsehen für mich, der Bolzplatz kam erst später. Ich war vermutlich ein bisschen seltsam.
Nun ja, ich fand Folgen von Ruck Zuck – das gefiel mir damals sehr. Und von Hopp oder Top. Beides Produktionen des Senders Tele 5. Letzteres moderierte ein Österreicher. Ich guckte einige Folgen bei YouTube, ich stellte fest, dass die Menschen damals anders sprachen. Eloquenter waren. Weniger verbissen in der gegenseitigen Kommunikation. Wenn ich so überlege, kommunizierten die Leute um mich herum früher tatsächlich auch offener. In einer Folge fragt der Ösi einen Kandidaten, der beim Sozialamt beschäftigt war, ob ihm im Zuge der Asylpolitik denn Leute persönlich ärgerten, die sich lediglich Sozialleistungen erschleichen wollten. Der Mann blieb gelassen, darüber denke er nicht nach.
Ich habe sehr gelacht. Was kümmert mich der Schmäh von vor dreißig Jahren, dachte ich mir. Aber dass man das damals so zur abendlichen Showzeit noch sagen konnte, ohne gleich den Rücktritt anempfohlen zu bekommen: Das finde ich irgendwie – demokratisch? Offen allemal. Ich muss es ja nicht sehen wie er. Aber er kann es doch sagen dürfen, Mensch! Man schau nur mal, was man mit Dieter Nuhr neulich machte. Der hatte prompt einen Rassismusvorwurf an der Backe – grundlos übrigens. Mir ist ehrlich gesagt die Haltung von damals lieber. Nein, da war ja nichts besser als heute so insgesamt gesehen. Es gab genug Sauerein. Und klar wurde damals wild gegen Ausländer gehetzt. Als spanischer – oder doch deutscher? – Gastarbeiterbengel weiß ich das – nicht so sehr wie jene türkischen Opfer von Übergriffen und Anschlägen nach der Wende. Aber das waren auch Gastarbeiterkinder – wie ich.
Wokeness? Ein chinesisches Pfannengericht?
Dennoch konnte man noch etwas atmen. Was sagen. Musste nicht immer aufpassen, irgendwo ein unsichtbares Fettnäpfchen zu betreten. Wokeness gab es noch nicht. Ich benutze diesen Anglizismus übrigens erstmals in einem Text. Bis neulich wusste ich zwar, dass es Wokeness gibt – aber ich kannte das Wort dazu nicht. In der Welt, aus der ich komme, gab es weniger englische Worte – man hatte selbst Begrifflichkeiten. Einst schwelgte mein Berufsschullehrer vom Deutschen, da gäbe es so viele Worte wie in keiner anderen Sprache. Dann fragte er mich, ob es im Spanischen das Wort Willkür gäbe. Ich war Sechzehn, ich wusste nicht mal, was das Wort im Deutschen genau bedeutet. Er lieferte zum Glück eine Antwort: Gibt es nicht! Was übrigens nicht stimmt. Dennoch ist das Spanische jedenfalls an Worten ärmer, man arbeitet eher mit Doppelbedeutungen. Offenbar haben wir aber vergessen, dass wir unzählige Begriffe für fast alles haben.
Ja, wie schon erwähnt, er mochte die Nationalelf nicht. Eigentlich, wir sind unter uns, da kann ich es zugeben, mochte mein Vater dieses ganze Land hier nicht. Diese Verschlagenheit der Leute, die Besserwisserei. Einmal hat einer mit ihm gewettet, dass Mallorca ein selbstständiges Land sei. Und als er seiner späteren Schwiegermutter von seiner Heimat erzählte, von den Bergen im Baskenland, da lachte sie ihn aus. Berge in Spanien? Nichts davon konnte es geben. In Spanien wachsen Orangen, da ist kein Platz für Gebirge. Mit Abstand würde ich sagen: Er war chronisch gekränkt. Dieses Deutschland strafte er mit Verachtung. Spanien war der Ort seiner Sehnsucht, da war alles besser, harmonischer, die Menschen netter zueinander.
Als Junge glaubte ich das. Neulich habe ich – ihr merkt, ich gucke noch immer viel in die Glotze – mir eine achtteilige Doku über die ETA angeschaut. Wir waren quasi jedes Jahr dort, wo diese ETA wütete. Wo sie Menschen umbrachte. Auch Kinder. Das hielt man von uns Kindern wiederum fern. So glaubte ich halt auch, dass Spanien ein rundherum tolles Land sei. Eines ohne Nöte. Man müsse nur dorthin, zurückkehren ins Land der Väter. Mein Vater dachte darüber nach, als Rentner zurückzukehren. Er starb anderthalb Jahre vorher. Die Sozialkassen danken es ihm noch heute.
Orte kann man verlassen, Zeiten nicht
Dabei war eigentlich schon damals klar, dass das Romantik sein muss. Das Spanien, das er verließ, gab es doch gar nicht mehr. Die Alten waren tot, die Spanier richteten sich in einem neuen Staat ein, ohne Franco – aber mit vielen Franquisten, die jetzt behaupteten, stets anständige Menschen gewesen zu sein. Die Jugend sprach nun anders, lebte anders und tickte nicht mehr so, wie die Leute, die mein Vater kannte, als er noch in seiner Heimat lebte. Er hatte nicht nur den Ort aufgegeben, sondern auch den dortigen Zeitgeist verlassen, der ihn sozialisierte – die Weiterentwicklung dessen hat er verpasst. Er hätte vermutlich nur schwer den Anschluss gefunden, wäre er zurückgegangen.
Man verlässt eben nicht nur einen Ort, wenn man ihn denn verlässt. Auch die Zeit lässt man hinter sich. Eine Binse fürwahr, ich weiß. Wenn man zurückkommt an den Ort, ist es einfach nicht mehr dasselbe. Man kann nicht nahtlos weitermachen, sich wieder einfügen. Man ist im wahrsten Sinne dener Redewendung »aus der Zeit gefallen«.
Ein bisschen so, wie ich mich derzeit fühle. Denn klar, ich kann die Orte meiner Kindheit und Jugend besuchen. Aber der Geist von damals, der stellt sich deswegen nicht mehr ein. Zu viel ist passiert, zu sehr habe ich mich verändert. Wie jeder Mensch. Doof nur, wenn man eine Sehnsucht nach Zeiten hat, in denen man sich wohler fühlte. Ich kann heute die Ostdeutschen wesentlich besser verstehen. Klar, in der DDR lief viel schief. Aber dennoch sehnen sich manche zurück. Ostalgie nennt man das zuweilen. Man wirft diesen Leuten vor, sie lebten in der Vergangenheit. Heute weiß ich, da fühlten sie sich wohler. So ohne Wokeness und liberalen Sektierertum. So wie ich eben damals, in den Neunzigern. Dieser komischen Zeit der Spaßgesellschaft, in der noch nicht jeder Satz ein Statement und jeder Schritt ein ethisches Konzept beinhalten musste.