An Weihnachten und Silvester gibt es keinen Grund zu feiern. Sagen Karl Lauterbach und einige andere Politiker. Ob jemand in feierlicher Stimmung ist oder nicht, entscheiden aber nicht sie. Sie verkennen zudem die menschliche Komplexität.
»Es gibt dieses Silvester nichts zu feiern. Tausende Menschen kämpfen in Krankenhäusern darum, Luft zu atmen.« Das stellte Karl Lauterbach kürzlich fest. Andere Spezialisten stimmten da mit ein. Im ersten Moment möchte man ihnen ja irgendwie recht geben. Es ist pietätlos, mit einem Glas Sekt anzustossen, Böller abzufackeln und einen Augenblick des Glücks zu verleben, während andere um ihr Leben ringen müssen. So ein Abend zusammen, an dem man lacht, Musik hört und mitsingt, gut speist: Ekelhaft, wenn andere diese Möglichkeit nicht haben können!
Sterben und Lachen und Lachen und Sterben
Ist das so? Oder haben wir es hier nicht mit Bigotterie zu tun? Gestorben wird schließlich immer. Was – diese Binsenwahrheit empört Euch? Dann tut es mir leid, Euren Mittagsschlaf gestört zu haben. Aber während ihr so döst, und während andere lachen, etwas genießen, miteinander schlafen, stirbt es sich synchron dazu irgendwo auf der Welt. Wahrscheinlich sogar in einem Radius von zehn Kilometer vom Kanapee entfernt, auf dem das Nickerchen der Selbstgerechten zuweilen eingeleitet wird. Zugegeben, das ist ein schlaffes, weil abgenutztes Argument. Aber deswegen ja nicht falsch.
Denn die menschliche Wirklichkeit ist kein moralischer Imperativ. Im Regelfall ist man gar nicht so klar in seinen Regungen. Nehmen wir nur mal so einen Leichenschmaus. Der Anlass ist kein glücklicher. Aber am Ende kommt nicht selten eine lustige Familienfeier dabei herum. Ist das würdelos? Unmoralisch oder pietätlos? Wenn das jemand so sehen mag, kann er das tun – das ändert aber nichts an dem Umstand, dass solche Feierlichkeiten immer wieder umschlagen und die Trauer der Feierlichkeit weicht. Sind Teilnehmer solcher Runden deshalb per se unmoralische Gefühlsrowdies?
Wer das so sieht, verkennt letztlich, wie komplex die menschliche Gefühlswelt ist. Sie lässt sich nicht schroff unterteilen. Selbst in Kriegen feiert man Feste, steht einem der Sinn danach einige fröhliche Stunden zu verleben. Vielleicht ist dieser Sinn sogar besonders in derart ausweglosen Situationen ausgeprägt. Und so wird gestorben und gelacht – in unmittelbarer Nähe zueinander. Das ist der Lauf des Lebens, beides gehört zu den Umständen des Menschseins.
Apropos Leichenschmaus. Sagt das doch nochmal, werte Leser: Leichenschmaus. Die Aussprache dieses Wortes dauert in etwa eine Sekunde. Bei normalem Redefluss, versteht sich. In dieser einen Sekunde sind zwei Menschen auf dieser Erde gestorben. Leichenschmaus. Schon wieder! Das Wort Geburtstagsfeier ist da nicht besser. Steckt in diesem Wort, das von Feierlaune kündet, nicht eine ignorante Weltverachtung? Ja, die Arroganz desjenigen, dem es nicht so schlecht geht, dem es obliegt zu feiern? Wer so an die Sache herangeht, kann nicht nur keine Freude mehr verspüren – er hat den Boden eines normalen, ja eines gesunden Lebensgefühls verloren.
Puritanistischer Tugendfuror ist keine Seuchenschutzmaßnahme
Als Kind sind wir mit meiner Großmutter öfter mal auf den Friedhof gegangen. Wie Kinder so sind, lief ich dort herum, war albern, spielte mit der Gießkanne. Dafür wurde ich von ihr gerügt. Auf dem Friedhof habe man nämlich angemessen aufzutreten. Einem Erwachsenen kann man das sicherlich ans Herz legen. Aber einem Kind? Was spricht denn dagegen, am Ort, wo Menschen beerdigt wurden, das Trapsen von Kinderbeinchen im Kieselschotter zu vernehmen? Ist das nicht der Lauf der Welt? Sterben und Aufwachsen? Trauer und Freude? Meine Oma war da Pietistin – und das obwohl sie Katholikin war. Auch sowas gibt es.
Es entsprach halt ihrer Moralvorstellung, der Friedhof war irgendwie eine religiöse Randzone, ein Gottesacker halt. Dort benimmt man sich fromm, nicht authentisch. Man guckt zu Boden, zeigt Respekt. Nicht unbedingt den Toten gegenüber, die haben es hinter sich. Aber den anwesenden Leuten, den Hinterbliebenen, die die Grabespflege leisten. Was die wohl denken, wenn Oma mit einem Enkel anrauscht, der nicht brav wie ein Ministrant an der Seite seiner Altvorderen schlurft?
Ohne falsche ideologische Rücksichtnahme hat eine solche Sorge natürlich keinen Bestand mehr. Sie ist Ausdruck eines Tugendfurors, quasi so eine Art puritanistischer Humorbefreiung, die rein sachlich gar nicht erklärbar ist. Mit der kindlichen Wahrnehmung, ja mit der Einsicht vom Werden und Vergehen des Lebens – an sich auch ein christlicher Aspekt -, lässt sich diese Form des Moralismus gar nicht zusammenbringen.
Was Lauterbach und Konsorten da als Seuchenschutz verkaufen wollten, hat nichts mit Virologie oder Schutzabsichten zu tun. Sie versuchen einen Schuldkomplex an die Leute zu bringen, der das Gegenteil dessen ist, was dieser Mann vorgibt zu beackern: Wissenschaftlichkeit. Das hat was Evangelikales, auch etwas Kultisches, wirkt wie religiöses Muckertum. Stellt eine emotionale Erpressung dar, wie man sie im spießigen Weltbild religiöser Fundamentalisten findet, aber sicher nicht im Repertoire des Seuchenschutzes. Ein schlechtes Gewissen muss also keiner haben, wenn er sich auf eine kleine Feier freut in diesen Zeiten. Das ist nur menschlich. Ganz egal was der Seuchenschutzpriester meint oder glaubt.