Neuinfektionen. Immer neue Neuinfektionen. Täglich aufbereitet. Wenn wir die Pandemie weiter an nur dieser einen Kennzahl festmachen, wird sie nie enden.
Aufwachen. Eine Tasse Kaffee aufbrühen. Gucken, was passiert ist. Diese mollige Grundordnung noch verschlafener Morgen, wurde in den letzten Wochen und Monaten aufgehoben. Heute heißt es: Aufstehen, Teletext an oder wahlweise App öffnen, schnell schauen, wieviele Neuinfektionen es gibt. Dann abwägen, ist das gut, schlecht?, haben wir noch eine Chance?, wie sieht es eigentlich im Ausland aus? Niederlande: Neue Rekorde. Tschechien: Neue Rekorde. Neuinfektionen. Neuinfektionen. Neuinfektionen. Sie machen krank. Nicht jeden Neuinfizierten. Dafür aber jeden, der sein Corona-Weltbild an nur dieser Kennzahl ausrichtet.
Mit Infektionen infiziert
Rekorde. Wir sind auf Rekordjagd. Jeden Morgen gucken wir, was wieder ging. Dann brummt uns der Schädel, wenn trotz totalitärer Maskenpflicht in Frankreich die Rekorde purzeln. Oder wenn trotz Lockdown in Israel so viele mit Covid-19 infiziert sind, wie nie zuvor. Das nehmen wir mit in den Alltag. »Hast du schön gehört, das in Israel?«, fragen wir dann den Kollegen. Und der sagt: »Ja, mein Gott, mein Gott, wir brauchen einen Lockdown und wenn du mit mir redest, zieh mal deine Maske über das rechte Nasenloch, das guckt raus, da steigt gleich der Tod hervor.« Das schaukelt sich hoch. Gegen Abend beruhigen wir uns ein wenig – bis der ARD-Brennpunkt ausgestrahlt wird, dann gehen wir völlig aufgelöst ins Bett.
Morgen früh, wenn Corona will, werden wir wieder geweckt. Und was tun wir? Kaffee aufbrühen und an den Rechner. Was gibt es Neues? Rekordinfektionen in Indien. Um Himmels Willen. So viele Infektionen bei uns wie seit April nicht mehr! Unter der Dusche grübeln wir nach, in der Tram ziehen wir die Maske besonders hoch, hoffentlich erblickt mich das Virus nicht. Dem Typen, den man immer in der U-Bahn trifft, fragt man, wie er das alles sieht. Er winkt ab, »ganz schlimm«, sagt er. Da mischt sich jemand ein, ein junger Kerl, er meine, es sterben aber weniger. Und auf Intensivstation ist kaum was los. Er wisse das, weil er auf einer arbeite. Er hat mal geguckt, gestern waren es in ganz Deutschland nur 199 beatmete Covid-Patienten. Keine Antwort, die anderen stieren peinlich berührt zu Boden. Keine Kontaktschuld mit einem Covidioten aufbauen. Das wäre der soziale Tod.
… und die Sterblichkeit stagniert
Auf Arbeit erzählt man dann einem Kollegen von der ominösen Begegnung. Der zuckt mit den Achseln, meint, dass der junge Typ ja auch nicht so falsch liege. Es sterben ja weniger Leute als im März und April. Auch in Frankreich, wo die Rekorde nur so fallen. Und auch die Krankenhäuser werden erstaunlich wenig frequentiert. Darüber brütet man den ganzen Arbeitstag, eilt nach Hause, zappt abends in die Nachrichten und schon hört man wieder: Rekordinfektionen. Neuinfektionen. Infektionszuwachs. Jetzt wird es gefährlich, sagt da einer, der früher immer Fliege trug. Keine Panik, erklärt ein ganz anderer, der Fliegen im Kopf hat. Wenn einer meint, man müsse keine Panik haben, so lehrt es die Erfahrung, drückt er damit eigentlich nur aus: Panik ist im Anmarsch. Am nächsten Tag wartet die nächste Botschaft: Infektionen am laufenden Band.
Kein Index, der alles verrechnet. Und keine Formel, die Infektionen, Testungsquoten, Sterblichkeitsraten, Hospitalisierungen und intensivmedizinische Folgen zusammenstellt, miteinander ver- und gegenrechnet und dann einen Koeffizienten hervorbringt, der in etwa die Gemengenlage abbildet. Mit so einer Zahl könnte man halbwegs was anfangen. Maßnahmen danach ausrichten, sinnvoll interagieren. Aber Infektionen alleine zur Grundlage zu erheben, bringt überhaupt nichts. Sie dienen nur der Panikmache.
Es wird nie gar keine Infektionen geben
Dahinter steckt ohnehin ein fataler Irrtum: Man könne das Virus ausrotten, es vom Antlitz der Erde verbannen, zur Episode in der menschlichen Geschichte degradieren. Dabei ist eines ganz klar: Es wird nie gar keine Corona-Infektionen mehr geben. Sie werden immer da sein. Nur halt nicht als Pandemie. Wenn man aber die Pandemie nicht an den Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft festmacht, an Parametern wie den oben genannten Formelbestandteilen, sondern nur an der Anzahl infizierter Menschen, wird die Pandemie quasi nie enden. Sie wird immer weitergehen, weil immer irgendwo jemand oder mehrere einen solchen Virus in sich tragen. Ja, wenn man 1918 schon so ein Prozedere gehabt hätte, wäre die Spanische Grippe heute noch nicht vorbei.
Das Verständnis darüber, was eine Pandemie ist und was nicht, obliegt damit einer Umdeutung. Damit wäre jede Krankheit, auch jene, an der nur wenige sterben, zu einer Pandemie mutiert. Dieses Schielen auf die reinen Infektionszahlen macht krank. Lässt Individuen und die ganze Gesellschaft darben. Es macht verrückt, verstellt den Blick auf das gesamte Geschehen und treibt in eine Hysterie, die zu Handlungen treibt, die vielleicht nicht notwendig wären. Stichwort: Lockdown. Diese zweite Welle in Europa, die laut Experten dtrtd schlimmer wütet als die erste Welle – man denke an die Spanische Grippe -, verhält sich jedenfalls erstaunlich ruhig. Sie macht nur Angst, wenn man nichts als Infektionszahlen im Blick behält.