Dass man die Unantastbarkeit der menschlichen Würde im Zuge der Corona-Krise mit dem Credo gleichsetzt, alles sei dem Schutz des Lebens unterzuordnen, entspricht durchaus unserer etablierten Auffassung, wonach es nichts würdevolleres als eine hohe Lebenserwartung gibt.
Natürlich haben sich 2003 viele mit vollem Recht über den mittlerweile verstorbenen Philipp Mißfelder aufgeregt. Der damalige Vorsitzende der Jungen Union machte seinerzeit klar, dass er nichts davon halte, »wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen« würden. Der damals 24-Jährige hatte offenbar vergessen, dass es sich dabei besonders auch um jene Senioren handelte, die seiner Partei zu Mandaten verhalf – und noch immer verhilft. Ein so junger Mensch hat überdies derart laxe Erkenntnisse nicht anzubringen. Das ist respektlos.
Bei allem Ärger über die Aussage sollte man jedoch nicht den Kern einer möglichen Wahrheit, die darin steckt, im moralischen Eifer wegschieben. Mit der Solidargemeinschaft hat der ganze Komplex nichts zu tun – wohl aber mit Ethik: Ist das die Umsetzung von Würde nach medizinischen Kritierien? Sicher: Jeder Mensch, gleich wie alt er ist, hat zwar kein Recht auf Gesundheit, wohl aber auf medizinische Hilfe. Da aber unser medizinischer Betrieb, die westliche Medizin grundsätzlich, Würde stets mit Lebensverlängerung und -erhaltung gleichsetzen, bleibt sie – die Würde – oft nicht weniger als die Konjunktivform von werden.
Leben und sterben lassen?
Wir haben uns dazu verleiten lassen, Würde immer zugleich mit einem Lebensrecht, mit dem Schutz des Lebens gleichzusetzen. Und oft trifft das ja auch zu. Was wäre die Würde des Menschen denn ohne Lebensbejahung? Ohne die Garantie, sein Leben würdevoll, das heißt als nicht unterdrücktes, beschämtes Wesen leben zu können? Gleichwohl gehört eine Größe zum menschlichen Leben dazu, eine Größe, die wir in unserer Hochglanzgesellschaft gerne verschleiern und wegklicken: Das Sterben. Es ist auch ein Teil dessen, was wir Leben nennen. Und damit auch ein Bereich, der unseren Würdebestrebungen zufällt.
Dabei ist natürlich darüber zu sinnieren, wo Sterben beginnt und wo Leben aufhört. Ist damit nur der wirklich letzte Akt gemeint, die letzten Tage auf Erden? Oder kurz bevor man »auf den letzten Gang« zusteuert? Reicht schon eine schwere ärztliche Diagnose aus, um in den Sterbemodus eingeordnet zu werden? Oder nehmen wir bereits den Verfall des Körpers im Alter als Weg hin zur Endlichkeit wahr?
Diese Frage kann in erster Linie nur individuell beantwortet werden. In jedem Falle geht es aber darum, dass Menschen auch diesen Weg hin zum Verfall der eigenen Körperlichkeit würdevoll erleben möchten. In den Pflegeheimen ist das nicht immer der Fall. Die Wirklichkeit zeigt sich dort im Allgemeinen als würdelos. Es fehlt an Personal, an Geldern, in gewissen Sinne auch an starken Familienbanden, wenn erstmal jemand ins Heim gegeben wurde. Alte Menschen werden sediert, schnell abgefüttert, oft fehlt ihnen die Ansprache. Man wirbt aber mit einer Parole laut und deutlich: Bei uns leben Senioren gerne!
Unsere alltägliche Würde im Alter
Hauptsache leben. Irgendwie. An Weihnachten und Ostern, immer dann, wenn auch in Pflegeheimen die Personaldecke dünn wird, häufen sich im Regelfall die Verlegungen in örtliche Krankenhäuser. Der schlechte Allgemeinzustand gibt immer mal einen solchen Aufenthalt her. Dekubiti verschlechtern, Stürze häufen sich. Und wenn es geht, operieren wir natürlich auch sehr alte Menschen. Um deren Lebensqualität zu verbessern. Eine Peg-Sonde hat noch keinem geschadet. Ob die das wollen, ist nicht immer zu ermitteln. Man setzt es voraus, die Familie, im Regelfall sehr fürsorglich aus der Ferne, würde nie einer Qualitätsverbesserung im Wege stehen. Sie stimmen also zu. Ist das Würde? Haben sich diese Menschen, als sie jünger waren, so ihre letzten Jahre vorgestellt?
Nein, ich sage mitnichten, dass man alte Menschen sterben lassen soll. Was ich sage ist: Es ist eine Einzelfallentscheidung, ob man Würde durch Tun oder durch Unterlassen herstellt. Und damit gehe ich mit Wolfgang Schäubles Auffassung konform: Der Würdebegriff unseres Grundgesetzes, als oberster Wert überhaupt, beinhaltet durchaus, dass man sterblich ist. Sie so zu interpretieren, als heiße Würde nur, man müsse alles für den Lebensschutz und zum Weiterleben zur Verfügung stellen, ist eine eindimensionale Sicht auf die Verfassungswirklichkeit – und grundsätzlich auch eine gefährliche, weil radikale und zugleich an unrealistischen Zielen festhaltende Entwicklung.
Patienten mit heftigem Verlauf von Covid-19 werden oft auf dem Bauch liegend beatmet, Angehörige haben keinen Zutritt, es sei denn, es geht wirklich dem Ende entgegen. Wir ließen über Wochen keine Menschen zu Hospizpatienten, zu alten Menschen generell. Alles nur, um das Leben zu schützen. Mit einem würdevollen Leben oder anders gesagt, mit einer würdevollen Gestaltung der Lebensplanung von Menschen, die an ihrem Lebensende stehen, hat das alles nichts zu tun. Eher im Gegenteil: Hier wurde die Würde mehrfach aberkannt.
Abwegige Vollkaskomentalität
Die Würde ist eine Bürde. Und zwar immer dann, wenn sie an Grenzerfahrungen stößt. Wenn alles gut läuft, in dem was wir »normale Zeiten« nennen, kann man sie gut deichseln. Diese Sonnenschein-Würde kann jeder taxieren. In schwierigen Zeiten ist sie jedoch ein Balanceakt. Eine Abwägung zwischen dem Klaren und dem Vagen, in dramatischer Formulierung: Zwischen Leben und Tod. Sie kann nicht einfach dem Lager der Lebenden zugeschlagen werden, weil auch die Sterbenden noch am Leben sind. Man verdrängt das nur gerne, gibt sie dem Unausweichlichen preis.
Hinter der Floskel, die in den letzten Wochen, ja mittlerweile Monaten so oft zu vernehmen war, nämlich dass es jetzt nur noch um »den Schutz des Lebens« oder besser ausgedrückt um den »Vorrang des Lebens« gehen müsse, verbirgt sich eine Radikalität. Eine, die man mit einem Wort auf den Punkt bringt, das in den vorangegangenen Jahren oft aus dem Munde neoliberaler Reformer zu vernehmen war: Vollkaskomentalität.
Dieses obskure Lebensgefühl, wonach jeder Mensch ein Anrecht auf Absicherung in jeder Lage hat. Dass man abgesichert sein will, wenn man alt, krank und arbeitslos ist: Geschenkt – natürlich, der Sozialstaat hat diese Verpflichtung. Aber der Rundumschutz in jeder Lage, nicht bei einem Unfall, bei einem Anschlag, bei einer Pandemie beeinträchtigt zu werden: Das etabliert nur radikalste Maßnahmen, die obendrein auch nicht hundertprozentig sein können.
Das Leben: Tödlich!
Restrisiko: Ein Wort, das heute nicht so gerne verwendet wird. Denn es macht deutlich, dass der Mensch auch Unabwägbarkeiten ausgeliefert ist. Er ist nur sehr bedingt Herr seines Handelns – obwohl er sich von der Natur emanzipiert zu haben scheint, eine neue Spezies geworden, laut Yuval Noah Harari der »Homo Deus« geworden ist, bleibt er in der Naturwelt verankert. Als Tier, das sich anzieht und kämmt: Eigentlich keine bombastische Erkenntnis. Aber genug verdrängt, um immer mal wieder daran erinnern zu müssen.
Wir sind überdies Tiere, die selbstreflektiv sind, sich Narrative konstruieren – und eines davon ist es, dass wir in allen Individuen unserer Spezies ganz besondere Würdenträger erkennen wollen. Diese Geschichte ist nicht immer ganz einfach zu beantworten. Denn wenn die Würde des Menschen in alle Bereiche des menschlichen Kosmos hineinwirken soll, so eben auch dort, wo das Ende des menschlichen Daseins gegen natürliche Determinanten verhandelt wird. Das Leben mag zwar tödlich sein – die Würde ist es nicht. Und sie bleibt auch über den Tod hinaus bestehend, ansonsten wären Beerdigungsrituale, pietätsvolles Auftreten gegenüber Hinterbliebenen und das Erinnern an einen lieben Menschen keine Konstanten menschlicher Trauerkultur.
Natürlich bedarf es diverser Schutzmechanismen in der aktuellen Situation. Auch das ist Anspruch der menschlichen Würde, eben dass man Menschen nicht in ihr Unglück rennen lassen darf. Soweit ist das richtig. Aber ein Regime teils unangemessener Beschränkungen und Verbote, speziell auch die soziale Ausgrenzung kranker, älterer und sterbender Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft, widerspricht mehr dem obersten Gebot unseres grundgesetzlichen Gemeinwesens: Würde als unantastbar gestalten. Sollte das Schule machen, setzt sich diese Auffassung des »Vorrangs für Leben« auch auf lange Sicht durch, wird es eng. Für all jene, die sich dem Ende zuneigen.