Nehme ich in Kauf, dass Menschen sterben sollen, nur weil ich es für geboten halte, über Exit-Strategien zu sprechen? Dergleichen liest man in den Netzwerken jetzt immer wieder, wenn jemand auf ein sukzessives Ende hofft. Die Totschläger sind allerdings jene, die so »argumentieren«.
Exit-Strategien. Bis vor einigen Monaten war das das Schlagwort für Großbritannien. Wie, wann und auf welche Weise kann die Insel aus dieser Union mit dem kontinentalen Festland ausbrechen? Das war die zentrale Frage. Am Ende wählte man das Chaos. Der britische National Health Service, einst von den Tories als Profiteur der von Brüssel losgelösten Zahlungen gehandelt, spürt dieses Chaos gerade ganz besonders. Das Schlagwort kommt nun wieder vor. Diesmal betrifft es den ganzen Kontinent und letztlich auch den Rest der Welt. In Deutschland ist der Exit auch ein Thema; die ganze Angelegenheit firmiert hier unter der griffigen Parole »Exit oder Exitus?«.
Debattenoffenheit ist natürlich wie immer in unserer segensreichen Demokratie garantiert. Wer sich allerdings als Freund einer sukzessiven Exit-Strategie outet, muss sich gefallen lassen als Egoist oder schlimmer noch, als potenzieller Mörder, abgekanzelt zu werden. Denn wer darüber auch nur nachdenken will, hat all die Risikogruppen vergessen. In den Netzwerken gehört es jetzt zum neuesten Chic, Exit-Gedanken auf diese Weise zu diskreditieren. So einfach ist das Weltbild zuweilen. Besonders in der Bubble, wo selbst die Guten als Totschläger Berechtigung finden.
Nazikeule
Wer jetzt das durch Schließungen und Kontaktsperre Erreichte aufs Spiel setzt, so schrieb jemand bei Twitter, nimmt Menschenleben in Kauf. Das war noch freundlich formuliert. Wahlweise las man zur Sache noch ganz andere Statements. Von Tötung und gar Mord war die Rede. Wer jetzt auch nur über Exit sprechen möchte, über Vorgehensweisen zur Renormalisierung, der galt schnell wieder als einer der Unverbesserlichen. Früher »ewiggestrig« genannt. Zuletzt als Kimaleugner verschrien.
Das ist im Grunde alles eine Soße. Ob nun Klimaleugner, Ewiggestriger oder nun Exit-Befürworter: Das sind die Schlechten, die jederzeit willens sind, Menschenleben aufs Spiel zu setzen, über den Stand der Wissenschaft hinwegzugehen, Egomanen halt. Subsumiert findet man diese Gruppen unter dem Label »Faschist« – oder eben »Nazi«.
Allerdings spricht man das nicht ganz so offen aus, sondern man kaschiert es, lässt es bestenfalls durchschimmern. Im Grunde haben wir es bei dieser Methode, Menschen mit anderer Meinung und Sichtweise zu traktieren, mit der Nazikeule zu tun – bloß ohne explizit genannte Nazis. Es ist gewissermaßen eine Abwandlung der besonders in Deutschland beliebten Methode, jemanden sofort mit der Nähe zu den Braunhemden zu diskreditieren, um auf diese Weise eine etwaige Debatte mit ihm von vorneherein zu umschiffen.
Oftmals mangelt es bei diesem rhetorischen Kniff an Wahrheitsgehalt oder an einem auch nur grenzwertigen Bezug zu Fakten. Nein, nicht dass der Klimaleugner einen wissenschaftlichen Standpunkt einnähme – aber sein Kritiker, der ihn zum CO2-Nazi abstempelt, der an einem »Klima-Holocaust« bastelt, nimmt es mit dem Wahrheitsbezug ja auch nicht so genau. Denn Totschläger ist ein solcher Weiter-so-Geselle ja nicht. Nicht dezidiert jedenfalls. Ebensowenig wie nun jemand, der einen Ausgang aus den Corona-Maßnahmen besprechen will. Ihm Tötungslust anzudichten: Unangemessener geht es kaum noch.
Meinungsfreiheit: Die Freiheit der richtigen Meinung
Ohnehin gibt es seit längerem ein Problem mit der Meinungsfreiheit in diesem Lande. Oh, nicht doch! Natürlich gibt es sie, man darf durchaus Meinung haben. Hie und da sogar eine andere. Deswegen landet man – von einigen Kollateralschäden abgesehen, Stichwort: Gustl Mollath – nicht gleich hinter Gitterstäben. Aber irgendwie haben die Staatsbürger unserer Republik, man möchte fast sagen mehrheitlich, ein seltsames Verhältnis zu diesem Grundrecht.
Die einen jammern laut und gerne, dass sie ihre Meinung nicht sagen dürften, um sie dann doch zu sagen. Andere rufen »Zensur!«, wenn ihr Leserbrief nicht in der Zeitung erscheint – oder wenn ihr Kommentar hier, auf den Seiten dieses Weblogs keine Berücksichtigung findet. Und wieder andere haben ein massives Problem mit Meinung, die sich von ihrer eigenen unterscheidet.
Sicher doch, nicht alles, was da als Meinung durch das Land huscht, ist grundsätzlich durch die Meinungsfreiheit abgedeckt. Beleidigungen zum Beispiel, die stellen keine Meinungsäußerungen dar – das ist was zum Denken, was Introspektives halt. Aber anderes ist durchaus sagbar und wird dennoch bedrängt. Hier wertet man Meinungsfreiheit als das Recht, die richtige Meinung haben zu sollen. Als Imperativ, sich dem Konsens anzuschließen – oder dem, was man für Konsens hält oder gerne als solchen hätte. Tut man es nicht, droht der Ausschluss aus der Volkscommunity.
Dieses Prinzip findet man bei eigentlich jeder Diskussion im Lande. Vor einem Jahr war es die Leitkultur beim Thema Klimawandel. Jetzt ist sie es, wenn es um Corona und den Exit-Maßnahmen geht. Die Wiederkehr des Gleichen: Nietzsche hat sie noch fasziniert, aber wir Kinder der Dauerschleife gähnen nur noch hinter unserem Mundschutz – und praktizieren Zusammenhalten mit Kontaktsperren, und damit Nächstenliebe als Fernstenliebe, um bei der Ausdrucksweise des Altphilologen aus Röcken zu bleiben.