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Corona, Flüchtlinge & Co.: Ein bisschen Demut wäre schön

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Alles nur Ablenkung, oder was? Das ist eine der häufig formulierten Vermutungen, wenn es um das Corona-Virus geht. Aber nicht nur bei dem. Es gibt kaum ein großes Thema, hinter dem nicht eine Ablenkung von was auch immer vermutet wird – von Waffenlieferungen, Bankenverbrechen, Kriegen oder einfach der persönlichen Bereicherung von Politikern.

Ich halte das für unwahrscheinlich, sogar für sehr unwahrscheinlich. Denn wir brauchen gar nicht abgelenkt zu werden, wir machen das selbst, jeden Tag. Schließlich prasseln die (vermeintlichen) Informationen auf uns ein wie ein Herbstgewitter, im Minutentakt dreschen sie auf uns ein, konfrontieren uns mit der richtigen Einordnung und der politisch korrekten Haltung. Man sieht das an dem Gebaren der Altparteien, die nicht müde werden, uns aufzufordern gemeinsam gegen rechts aufzustehen, weil uns das doch so sehr vereint (Altparteien – so ein Wort, das man irgendwie nicht mehr benutzen darf, weil die AfD es gekapert hat, das aber eben doch stimmig ist, weil wir von den Parteien sprechen, die älter sind als andere).

Sicher, sie lenken uns ab von ihren wahren Taten, sogar Verbrechen, indem sie uns unseren Blick auf die Rechten, insbesondere auf die AfD, fokussieren lassen. Aber dieses peinliche Spiel hält nicht lange vor, denn wir lenken uns im nächsten Moment selbst ab: „Ja, gegen rechts, gute Sache, aber ich hab grad eine geile News auf mein Smartphone bekommen.“

Und werden wir denn wirklich abgelenkt? Von Korruption? Kriegstreiberei? Cum-Ex-Geschäften? Armut? Privatisierung? Nein, eigentlich nicht, wir lesen darüber, jeden Tag, sogar in den Medien, die wir eigentlich doch inzwischen eher verteufeln. Aber bei aller Kritik an den Medien, die sich in ihren Elfenbeintürmen bestens eingerichtet haben, es gibt regelmäßig genügend Perlen, die uns sehr wohl die Missstände aufzeigen, von denen wir angeblich immer abgelenkt werden sollen. Wir lesen das, nehmen es zur Kenntnis, kommentieren etwas wie „Diese Verbrecher“ und … lenken uns ab. Mit dem Smartphone. Oder dem Computer. Oder einfach, indem wir die Sportschuhe anziehen und laufen gehen.
Wir kriegen das mit der Ablenkung also bestens ohne fremde Hilfe hin.

Schreit es raus … oder auch mal nicht

Das mit der Ablenkung (oder eben auch nicht) ist aber meiner Meinung nach derzeit nicht das größte Problem. Ein viel größeres ist die Empörung, die von Wut und Zorn immer schneller in Hass umschlägt. Und die Gründe, die diese Gefühle entstehen lassen. Schauen wir uns nur zwei davon an.

1. Geflüchtete Menschen: Nicht erst seit gestern, auch nicht seit 2015, sondern schon viel länger werden Menschen auf der Flucht (oder: Menschen in Not) über die kalte Schulter hinweg beobachtet. Die Tatsache, dass der eigene Wohlstand stetig abnimmt und die Verlustängste allgemein immer ausgeprägter werden, ist einer der Gründe dafür.

Reflexartig reagieren wir mit Abwehr, denn – wer weiß – vielleicht müssen wir noch herbere Verluste hinnehmen, wenn geflüchtete Menschen bei uns Hilfe erhalten. Hilfe, die braucht inzwischen fast jeder selbst, ob in Form von finanziellen Aufstockungen oder anderen Maßnahmen, ohne die wir nicht mehr klarkommen würden. Bekommen wir also womöglich weniger Hilfe und Unterstützung wegen der Flüchtlinge? Es wird uns zumindest immer wieder so suggeriert.

Insbesondere in den „sozialen“ Medien wächst daher der Hass. Wir machen die Schuldigen aus, kreisen sie ein und prügeln los. Verbal, zunächst, später, auf der Straße, dann auch real.

(Anmerkung: Wenn in diesem Text von „Wir“ die Rede ist, so ist das reine Bequemlichkeit, um auf eine sprachlich einfache Weise auf ein gesellschaftliches Problem hinzuweisen. Das „Wir“ kann also betrachtet werden wie das in der BILD, wenn dort zu lesen ist, „Wir“ seien Papst oder „Wir“ seien Fußball-Weltmeister. Beides stimmt so nicht, aber zuweilen ist so ein „Wir“ verdammt praktisch.)

2. Corona: Das Corona-Virus erzeugt in uns eine ähnliche Abwehrhaltung wie die flüchtenden Menschen. Denn wir sehen beides als Bedrohung, als – so könnte man es sagen – persönlichen Angriff. Nun ist ein Virus – das ist allgemein bekannt – nicht mit Charakterzügen wie Gemeinheit oder Neid ausgestattet (die meisten Flüchtlinge übrigens auch nicht, wenn sie vor Tod und Folter und Hunger flüchten). Es ist, was es ist, aber das passt uns nicht. Verständlich, einerseits. Unverständlich, wie man deswegen aber sauer auf das Virus werden kann.

Und das wissen wir ja auch irgendwie. Also suchen wir uns andere Verantwortliche, teils durchaus zu Recht. Wenn man bedenkt, dass die chinesische Regierung kurzerhand mal eben das ganze Land faktisch unter Quarantäne gestellt hat und dabei keine Verwandten kannte, kann das, was unser Gesundheitsminister empfiehlt, schon die Nackenhaare in die Höhe schnellen lassen.

Andererseits: Wenn nun auch die Fußball Bundesliga vor leeren Rängen stattfinden soll, ist eine für uns natürliche Grenze überschritten. Schließlich finden die Spiele im Freien statt, und geniest wird ausschließlich in den eigenen Bierbecher, wahlweise auch in den Ellenbogen, der allerdings nur bedingt dafür taugt, weil sich dort längst das Bier des Hintermannes nach der letzten vergebenen Chance des blinden Mittelstürmers befindet.

Wie auch immer: Wir hassen dieses Virus. Und weil das so ist, lassen wir unserem Hass freien Lauf. Wenn wir könnten, wir würden das Virus ausweisen, oder, noch besser, gar nicht erst einreisen lassen. Aber das entscheiden ja andere für uns, und die sind inkompetent, denken nur an sich. Und womöglich haben die das Virus eh ins Land geholt, um uns … tja, abzulenken.

Andererseits ist Fußball des Deutschen Lieblingsablenkung. Was also kann das für eine Ablenkung sein, die uns ablenkt, obwohl wir doch längst abgelenkt sind?

Was wir können. Und was nicht.

Hass ist ein schlechter Ratgeber, eigentlich immer. Wut und Zorn dagegen sind Gefühle, die uns die richtige Richtung aufzeigen können, die uns – wenn wir mit diesen Emotionen richtig umgehen – helfen können, handlungsfähig zu bleiben.

Hass auf flüchtende Menschen oder auf ein Virus bringt nichts, rein gar nichts. Das Virus ist die Folge einer Entwicklung, die wir nicht verstehen können. Es übersteigt unser Vorstellungsvermögen, denn wir können es nicht sehen, nicht riechen, nicht schmecken, und verantwortlich dafür können wir auch niemanden machen (die Juden vielleicht, aber diese Theorie ist so sinnfrei wie nazistisch und wird wohl nur von Leuten vertreten, in denen ein ganz anderes Virus Unheil anrichtet). Wut und Zorn sind nachvollziehbar, auch darüber, wie die Bundesregierung mit dem Drama umgeht. Aber das Virus hat sie nicht in die Welt gesetzt (steile These, ich weiß), nicht mal zur Ablenkung von was auch immer.

Der Hass auf flüchtende Menschen ist ebenso irrational wie unbegründet. Denn selbst wenn von ein paar Tausend Flüchtlingen ein paar durch kriminelle Eigenschaften auffallen, kann das kein Grund sein, alle Menschen, die auf der Flucht sind, zu verurteilen (eher die Gründe, die sie auf die Flucht geschickt haben), schon gar nicht für das eigene Schicksal verantwortlich zu machen, das um keinen Deut besser wäre, wenn wir alle deutsch und blond und blauäugig wären. Wir kämen ja auch nicht auf die Idee, alle Männer einsperren zu wollen, weil einige von ihnen Frauen vergewaltigen.

Was wir aber können, ist, uns mit den Problemen zu befassen, die uns in der heutigen Zeit prägen. Wir können versuchen, Hintergründe zu verstehen, ein wenig Demut zu entwickeln. Demut? Ja, genau, Demut gegenüber Zusammenhängen, die größer sind und die mehr brauchen, als 280 Zeichen auf Twitter, um erklärt zu werden.

Das bedeutet nicht, dass alles so kompliziert ist, dass wir es eh nicht verstehen, im Gegenteil, das wird uns nur gerne eingeredet. Es wäre absurd, den Anspruch zu entwickeln, zu jedem nationalen oder internationalen Thema eine umfassende Meinung zu haben (auch wenn es oft erwartet wird oder wir es sogar von uns selbst erwarten). Man kann sich aber Themen herausgreifen, die uns besonders interessieren. Und sich mit diesen Themen beschäftigen. Nach und nach und nach reichlich unterschiedlicher Lektüre können wir uns dann ein Bild machen, das über die Oberflächlichkeiten hinausgeht, mit denen wir tagtäglich konfrontiert werden. Demut bedeutet in diesem Zusammenhang, sich der Komplexität gewisser Themen bewusst zu sein, ohne vor Angst und Unwissenheit zu erstarren.

Wenn wir es schaffen, über den 15 Minutentakt hinaus zu denken und den Anspruch ablegen, zu allem und jedem etwas zu sagen zu haben, können wir uns informieren und so eine Meinung bilden. Nicht zu allem, das ist unmöglich. Aber zu den Themen, die uns wirklich interessieren.

Das führt – das kann man sagen – je nach Thema zu einer Menge Wut und Zorn, zu Emotionen, die wir in Kraft umwandeln können. Es führt aber in den seltensten Fällen zu Hass. Und damit wäre ein enorm großer Schritt gemacht.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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