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Natürlich sind die USA ein Unrechtsstaat!

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Die Wut auf das Establishment: Mit diesem Gefühl vieler Amerikaner hat Donald Trump 2016 gespielt – und gewonnen. Viele US-Bürger lehnen ihre Administration, die Eliten und die Institutionen ab. Nicht nur, weil es ihnen wirtschaftlich schlechter geht als früher, sondern besonders weil sie in einem elitären Unrechtsstaat leben.

Gemeinhin nennt man einen Grund, weshalb die Amerikaner sich für einen wie Donald Trump entschieden haben: Den Niedergang der Wirtschaft und des Wohlstandes. Deshalb habe er ja auch im Rust Belt, den man früher noch Manufactering Belt nannte, so viele Befürworter gefunden. Wenn man in einer Gegend lebt, in der seit 20 Jahren Bewohner so stark abwandern, macht das was mit den Menschen. In dieses Vakuum stoßen kriminelle Gruppen, der Staat befindet sich im Rückzug – und wenn er sich mal nicht zurückzieht, wenn seine Instanzen doch mal handeln, tun sie das nicht selten so, dass die Menschen ihn ablehen müssen.

Seltener schiebt man die Entwicklung des politischen Amerika auf einen weiteren Pfeiler der Erosion – eigentlich ein Oxymoron -, nämlich auf das Justizsystem. Nicht nur Schwarze haben vor einem Court schlechte Chancen – auch Menschen aus ärmeren Gesellschaftsschichten, die zwischen die Mühlen der Justiz geraten, sind völlig aufgeschmissen und der unerbitterlichen, teils auf Rache sinnenden Justizauffassung und elitären Arroganz ausgeliefert. Justizskandale, die für neutrale Beobachter sofort augenfällig werden, sind dort keine Seltenheit. Exemplarisch sind jene mittlerweile berühmt gewordenen, im Zusammenhang stehenden Gerichtsverfahren von 2007, in denen es als Aktennotiz auch ein anwaltliches Zitat gab, in dem es hieß, man müsse »den Genpool [der Familie der vermeintlichen Täter] dichtmachen«.

Kurzer Exkurs: Die Fälle Steven Avery und Brendan Dassey

1985 wurde Steven Avery verhaftet. Er soll eine Frau vergewaltigt haben. Beweise gab es keine. Aber die örtliche Polizei mochte den Clan der Averys von jeher nicht. Sie galten als eigenbrötlerisch, ihr Sohn Steven fiel ab und an wegen kleinerer Vergehen und Unflätigkeiten auf – gab aber seine Taten gemeinhin zu, wenn man ihm auf die Schliche kam. Im Falle der Vergewaltigung beteuerte er aber hartnäckig seine Unschuld. Alles sprach auch dafür, er hatte im Grunde ein Alibi – trotzdem wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. 18 Jahre später kam er frei. Schon Mitte der Neunziger lang der Polizei ein Geständnis eines anderen Mannes vor. Der gab zu, damals die Vergewaltigung verschuldet zu haben. Man schwieg das allerdings tot.

2003 kam Avery dann doch aus dem Gefängnis und strebte eine Schadensersatzklage gegen die Polizei und den Staatsanwalt an. 36 Millionen Dollar sollten sie bezahlen. Das wäre deren Ruin gewesen. Just in der Zeit, als man gegen die damaligen Instanzen ermittelte, geschah ein Mord an einer jungen Frau. Sofort wurde Avery verdächtig, man sperrte seinen Grund und Boden und suchte über Tage nach Beweisen. Man fand natürlich den Autoschlüssel samt Auto auf seinem riesigen Areal – der Schlüssel lag aber erst nach der fünften Hausdurchsuchung gut sichtbar auf dem Boden. Vorher war er angeblich nie aufgefallen. Außerdem fand man Knochenreste vor seinem Trailor. Avery kam sofort in Haft, noch während die Durchsuchung lief saß er schon ein. Da die Beweise aber fadenscheinig waren, bastelte man sich einen Komplizen: Averys Neffen Brendan Dassey.

Der gab zu Protokoll, er sei bei der Vergewaltigung, Verstümmelung, Zerlegung und Verbrennung der Frau dabeigewesen. Blut wurde an Tatort übrigens nie nachgewiesen. Dassey kam in Haft. Die Aufnahmen seiner Vernehmung sind verstörend. Dassey ist minderbegabt, hat einen IQ von 70 und wurde ohne anwaltliche Beteiligung von zwei Beamten in die Zange genommen. Sie legten ihm Worte in den Mund und ließen es so aussehen, als ob er gleich nach Hause dürfte, wenn er seine Komplizenschaft gestehe. Tat er dann natürlich – ging aber nicht heim, sondern in den Knast. Der junge Dassey konnte nicht mal zwischen eigenem Anwalt und Polizei unterscheiden.

»Making a Murderer« – Making a Hater

Dasseys erster Pflichtverteidiger drängte ihn zu einem Deal: Gestehen und als alter Mann wieder auf freiem Fuß kommen – mehr sei nicht drin. Der Verteidiger war so auffällig gegen die Interessen seines Mandaten, dass man ihn gerichtlicherseits doch ersetzte. Später kam heraus, dass er den Genpool der Averys trockenlegen wollte. Vor Gericht wurden beide in zwei separaten Verfahren schuldig gesprochen. Die Beweislage konnte zwar als dürftig bis konstruiert präsentiert werden: Das Gericht störte sich daran jedoch nicht. Einige Zeit danach erfuhr man, dass in der Jury Mitglieder der ermittelnden, averyfeindlichen Polizeibehörde saßen. Steven Avery musste einfach in den Knast – es gab 36 Millionen Gründe in Dollar dafür.

Minutiös zeichnet die Dokumentarserie »Making a Murderer« nach, wie übel den beiden mitgespielt wurde. Sie durchleuchtet die Aktenlage und spricht mit Beteiligten. Bis heute sitzen beide im Gefängnis. Und das, obgleich die Beweislage sich nochmal drastisch zugunsten der vermeintlichen Täter entwickelt hat. Die Knochenreste, die im Verfahren die Theorie stützte, sie hätten die junge Frau verbrannt, erwiesen sich als tierischen Ursprungs. Ganz neu ist die genannte Serie nicht, es gibt sie seit fünf Jahren – aber sie macht einen zum Hater, stürzt den Zuschauer in Ohnmacht.

Dieses veraltete, stark elitär geprägte, auf finanzielle Leistungsfähigkeit ausgerichtete Rechtswesen, in dem viel mit Emotionen gearbeitet wird, wo es nicht um Wahrheitsfindung sondern um die Überzeugung von zwölf Geschworenen mit allen Mitteln geht, entspricht keinem modernen Rechtsverständnis. Wer da als kleiner Mann zwischen die Räder dieses Getriebes gerät, hat ganz schlechte Chancen. Schuldig oder nicht spielt bestenfalls eine zweitranginge Rolle. Die Averys sind aus Manitowoc in Wisconsin. Dort hat Trump 2016 abgeräumt. Wegen der schlechten wirtschaftlichen Entwicklung – aber auch, weil er den Antielitarismus bediente. Das ist in vielen Teilen Amerikas ein Lebensgefühl geworden, weil man die Polizei und das Rechtswesen fürchtet. Sie gelten als Sperrspitze elitärer Verwegenheit. Wer auch nur so tut, als wollte er das ändern, macht sich beliebt.

Elitendiktatur, Unrechtsstaat, Polizeityrannei, Protofaschismus

Wir sprachen vom Rechtswesen. In diesem Zusammenhang sollten wir allerdings vom Unrecht sprechen. Denn es ist eine Konstante der amerikanischen Gerichtsbarkeit. Ja, klar, auch bei uns in der Bundesrepublik gibt es Fehlurteile. Die gibt es überall. Aber nirgends fällt man so tief, kommt so schlecht wieder aus der Unrechtsentscheidung heraus. Staatsanwälte irren in den USA noch weniger öffentlich als sonstwo. Sie möchten ja wiedergewählt werden und nutzen das Amt oft als politische Aufstiegschance: Eine harte Linie ist da ein Aushängeschild für angebliche politische Qualitäten. Wer da sagt, er habe sich damals geirrt, der empfiehlt sich nicht für höhere Weihen.

Man muss es aus der Perspektive der kleinen Leute sehen. Sie leben in einem Unrechtsstaat. Die amerikanische Haltung erlaubt es nur nicht, das auch so zu sagen. Aber es ist letztlich die richtige Einschätzung. Dort haben reiche Menschen ein Rechtssystem verfestigt, in dem man mit Geld gut durchkommt, aber als »sozial Schwacher« – blödes Wort! – nicht mal dann grundsätzlich Chancen hat, wenn man nichts getan hat. Sie haben es mit einer Elitendiktatur zu tun, die sich auf einen Polizeistaat verlassen kann. Ja, mit Protofaschismus! Wer da auftritt und sagt, er werde dieses Problem angehen, der kann ansonsten noch so unglaubhaft sein: Man ist auf seiner Seite. Denn die Spaltung in den USA ist das größte Problem überhaupt.

Natürlich sind die Vereinigten Staaten ein Unrechtsstaat. Er steht in nichts dem Iran nach, den die internationale Diplomatie wiederum als Unrechtsstaat skizziert. Die DDR ab den Siebzigerjahren dürfte im Vergleich zu den heutigen USA wie der Ausdruck höchsten Gerichtigkeitssinn wirken. Das Dilemma von 2016 war aber, dass man glaubte, man könne mit einem Protofaschisten wie Trump den Protofaschismus des elitären Amerika ausmerzen. Der Unrechtsstaat potenziert sich selbst. Wir nennen diesen Gangsterstaat indes »die Guten«. Auch heute noch. Trotz leiser Kritik hie und da. Wir sind als Gesellschaft Komplizen einer Adminsitration, die ihre ärmeren Schichten rechtlos hält. Und das ist nicht etwa Antiamerikanismus: Das ist die Wahrheit. Und die Wahrheit darf man sagen – nur vor Gericht ist sie ohne Chance.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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