8.8 C
Hamburg

Nichtschwimmer als Bademeister

Published:

Wir leben in einer Zeit, da kann jeder alles sein, alles machen, zu allem transformieren, wonach ihm gerade ist. Freiheit nennt man das im Duktus des Liberalismus. Im Grunde ist es aber radikaler Existenzialismus. Das Gequatsche von Leuten, die im Straßencafé über die Welt sinnieren, sie aber nicht richtig kennen.

Es wird Zeit für Geständnisse. Ich bin 41 Jahre alt, fast alles – außer vielleicht Fallschirmspringen und solchen Quatsch – habe ich in meinem Leben ausprobiert und gemacht. Geschwommen bin ich allerdings auch noch nie. Leider habe ich es nie gelernt. Mein Vater war da eigentümlich; er hatte Angst vor den Fluten, als junger Mann hat er wohl dabei zugeschaut, wie einer seiner Fußballkameraden – laut Erzählung ein guter Schwimmer – im Golf von Bizkaya ertrunken ist. Ich durfte sein Erlebnis dann ausbaden. Nicht mal das, wenn man es wörtlich nimmt, denn er ging mit uns Kindern nicht mal zum Baden ins Schwimmbad. Wie dem auch sei: Ich bin Nichtschwimmer. Trotzdem gehe ich sehr gerne ins Wasser. Dann aber mit dem nötigen Respekt vor dem Element.

So wie neulich, wo ich jedoch etwas ausgelassener ins Wasser ging. Die, die mit mir das Leben teilt, meinte nur, ich wirke gerade wie ein Macker, wie der Boss schlechtin. Mit meiner Sonnerbrille und wie ich da die Hände in die Hüften stemmte, das schien mich stylisch aufzuwerten. Klar, gab ich ihr zur Antwort, ich sei hier der Bademeister. Wir lachten, sie weiß freilich, wie es um meine Schwimmkünste bestellt ist. »Aber im Ernst«, frotzelte ich weiter, »was spricht dagegen Bademeister zu sein? Dass ich nicht schwimmen kann? Wir leben doch in einer Ära, in der man uns dauernd weismacht, dass jeder alles sein kann. Man müsse nur an sich glauben, dann erreicht man alles, was man sich erträumt. Du willst Star in der Showbiz werden, kannst aber nicht singen? Glaub an Dich, dann packst du das!« Dann erinnerte mich meine Bade- und Lebensgefährtin an die dicke Ballerina neulich.

Dicke Primaballerina oder Du kannst alles sein

Die hatten wir im Mai gesehen, als wir den Eurovision Song Contest an hatten. Irgendein teilnehmendes Land schickte seine recht dürftige Europop-Nummer mit einem Sidekick ins Rennen: Einer korpulenten, nun ja, einer recht dicken Ballerina. Der ESC steht ja seit vielen Jahren für eine ziemlich entpolitisierte Feelgood-Symbolik. Celebrate diversity und so. Die Interpreten wollten daran erinnern, so sagte der deutsche Kommentator an jenem Abend, dass man nur an sich glauben müsse, dann würde man jedes sich gesetzte Ziel meistern. Freiheit und so. Die dicke junge Frau tanze in ihrer Heimat im Theater. Näheres erfuhr man nicht.

Nun bin ich selbst ein dicker Mensch, ich weiß, dass man als Dicker nicht werden kann, was ein Mindestmaß an Schlankheit voraussetzt. Man kann natürlich auch Fußballer sein. Dann aber in einer Thekenmannschaft. Jemand mit Wampe kann noch so sehr an sich glauben, er wird es nie zu einem Bundesligaverein schaffen. Nicht, weil die Dicke nicht mögen, sondern weil der Beleibte da nicht mithalten kann – nicht neunzig Minuten, nicht 34 Spiele die Saison. In einzelnen Szenen mag er gegen seinen durchtrainierten Kollegen punkten – und wenn man nur diesen Ausschnitt sieht, wird man vielleicht reflexhaft denken, dass die Statur scheinbar gar keine Rolle spiele. Aber vollumfänglich betrachtet – nicht den Bauch, ich meine den Sport -, kommt man freilich zu einem anderen Eindruck.

Das schoss mir durch den Kopf, als die Primaballerina da rumhopste. Es sah ja nicht schlecht aus. Aber ist das nicht nur ein Ausschnitt? Der Song ging doch nur viel zu lange drei Minuten. Tanzt sie sonst wirklich 120 Minuten am Stück und steht mehrmals am Abend auf ihrem großen Onkel und dreht Pirouetten? Beim besten Willen, sie ist auch nur ein Mensch, zurückgeworfen auf ihre verdammte Körperlichkeit. Wie soll das gehen? Abend für Abend, Vorstellung für Vorstellung?

Radikaler Existenzialismus

Dass jeder alles werden könne, ist ja kein neuer Ansatz. Schon in den Vierzigerjahren entwickelten die französischen Vordenker des Existenzialismus diese Theorie. Hierbei waren sie aber weniger Vordenker von ganz neuen Ansätzen, als Nachdenker der Phänemenologie, die speziell aus Deutschland über den Rhein suppte. Über Edmund Husserl und den unsäglichen Martin Heidegger kam man in den Pariser Cafés auf den Trichter, eine ganz neue Philosophie zu denken. Eine, die sich befreien sollte von den Zwängen, Atavismen und Anachronismen der Belle Epoque, des immer noch gottgefälligen Obrigkeits- und Klassenstaates.

In diesem wurde den Menschen zumeist ihr jeweiliger Platz per Geburt zugewiesen. Die göttliche Ordnung stufte ein, wer wo wie aufsteigen oder seine Stellung halten konnte. Es durfte eben nicht jeder das sein, was er wollte, weil es ein Programm gab, einen engen Korridor, innerhalb dem man sich sozial bewegte. Der Mensch sei aber zur absoluten Freiheit verurteilt, in eine Welt geworfen, in der er jederzeit alles sein konnte, was immer ihm beliebt  – so urteilten die Existenzialisten. Das Leben sei ja letztlich absurd – und daher sei eben auch alles denkbar. Der Mensch, als einziges Wesen, welches sich seiner Vergänglichkeit und seiner Zukünftigkeit bewusst ist, kann Identitäten anziehen und ablegen, wie ein Hemd oder Socken.

Verbindlichkeit sei deshalb eine Illusion. Ordnung ein guter Vorsatz. Der Existenzialismus wurde auch wegen dieser Losung zu einem durchschlagenden Erfolg der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, weil er sich in einem Milieu des in Europa aufblühenden Totalitarismus herausschälte. Er war der Gegenentwurf hierzu, eine Art intellektueller Antifaschismus, der jetzt in den letzten Jahren zu einer neuen, noch radikaleren Blüte keimte. Denn die Frühexistenzialisten, insbesondere Jean-Paul Satre und mit Abstrichen Albert Camus, teilten eine rege Nähe zu den Kommunisten und zu sozialistischen, dem Gemeinsinn entsprungenen Bewegungen, Parteien und Ideen.

Realismus oder Liberales Eiapopeia

Dieser Radikalexistenzialismus von heute hingegen, der Menschen per Identitätsmantra separiert und vereinzelt, hält sich ja bewusst fern von solchen kollektiven Vorstellungen. Sie sind ihm suspekt, entsprechen ja auch nicht den ökonomischen Basics. Die Personalisierung und Ich-Fixierung der Debattenkultur, die nicht mehr im Sinne eines Gemeinsinns gehalten wird, sondern auf die Individualisierung der Lebensrealität, hat sich in den letzten Jahren massiv verselbständigt und vergaloppiert. Man hat den Bürgerinnen und Bürgern eingetrichtert, dass uns allen am besten gedient sei, wenn sie sich fragten, was »dem Mich und dem Meinen« (Max Stirner) diente und nicht dem Uns und dem Unseren.

Am Ende dieser Entsolidarisierung standen dann Parolen, die kein Augenmaß mehr kannten. Selbstverwirklichungsleitsätze und Ego-Shootings, »Glaub-an-Dich«-Phrasen und »Jeder-kann-alles-werden«-Beteuerungen, haben die Einzelfallbetrachtung ausgeblendet. Man suggeriert in einer Zeit, da die Klassendurchlässigkeit so verstopft ist wie ein oller Siphon, der so dicht ist wie vielleicht nie zuvor in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dass jeder seinen Traum leben kann. Man müsse nur ausreichend wollen. Bildungswege, Lebenserfahrung oder Talent seien zweitrangige Tugenden. Man müsse nur durchhalten und dürfe die Objektivität der Vielen nicht zu nah an sich ranlassen.

Natürlich ist Selbstvertrauen nie schädlich. Man sollte auch niemanden grundsätzlich entmutigen, bloß weil man glaubt, dass er sein Wunschziel nur schwer oder gar nicht erreichen wird. Aber ein gesunder Realismus, der jedem Aufstiegschancen nach seinen Möglichkeiten und seinen Bedürfnissen einräumt, ohne völlig vermessen total überhöhte Vorstellungen zu kultivieren: Das täte wirklich Not und wäre für alle gesünder. Als Nichtschwimmer vom Hochsitz träumen, in dem man als Bademeister in aller Freiheit logiert: Das ist natürlich nur eine Überspitzung meinerseits, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass uns auch ein solcher Irrsinn noch so oder ähnlich beschäftigen wird. Warum ich das glaube? Weil ich es kann und weil ich alles werden kann, was ich will: Sogar Prophet.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

Related articles

spot_img

Recent articles

spot_img