Durch Wissen zu verändern: Das war stets die wunderbare Verheißung der Aufklärung. Dieses Prinzip funktioniert heute weniger denn je. Wir wissen heute viel, verändern aber nicht unser Verhalten, verändern nicht die Strukturen. Ohne Gedanken des Gemeinsinns scheinen aufklärerische Ansätze nur zu verpuffen.
Ohne es zu wissen, war ich schon in meiner Kindheit ein Anhänger der Aufklärung. Denn dass große Ungerechtigkeit, Betrügereien und hinterlistige Pläne ab dem Moment keinen Bestand mehr haben können, in dem man die Öffentlichkeit von diesen Umtrieben in Kenntnis gesetzt hat, war für mich damals völlig logisch. Als Kind saß ich viel vor der Glotze – und was ich da sah, lief jedenfalls nach diesem Muster ab. In Filmen ging es seinerzeit fast immer in diesem Sinne gerecht und aufgeklärt zu. Ich glaubte an die Macht des Wissens, denn wenn man etwas weiß, konnte man darauf reagieren und Schlechtes sofort abstellen. Von Kant und wie er Aufklärung definierte ahnte ich damals noch nichts. Erst später im Leben erfuhr ich dann, dass Informationen zunächst gar keine Bedeutung haben müssen. Etwa dann, wenn die Existenzgrundlage auf dem Prüfstand steht. Wer zum Beispiel für Heckler & Koch arbeitet, weiß doch ganz sicher, dass am anderen Ende der Schussbahn jemand blutüberströmt zu Boden sackt. Aber er lebt nun mal von diesem Beschäftigungsverhältnis. Moral muss man sich leisten können. Dass Wissen auch Ohnmacht sein kann: Das langsam zu begreifen war für mich ein schwieriger Prozess.
Manchmal falle ich noch darauf herein, wie etwa zu der Zeit, als klar wurde, dass das deutsche Automobilwunder nur ein Betrug mit umweltpolitischem Marketing war. Einen kurzen Augenblick hoffte ich auf eine große Reaktion, auf eine Umwälzung der Straßenverhältnisse. Das war nämlich nicht nur ein Skandal, wie das die Medien nannten: Es war klarer Beschiss, ein groß angelegter Plan, um die Öffentlichkeit, den Kundenbürger nämlich, an der Nase herumzuführen. Aber zu viele sind abhängig von der Branche, all das häßliche Wissen darüber, nichts als Zeilenfüller für Zeitungen und Content für TV-Features.
Nach den neuesten Veröffentlichungen von Football Leaks spürte ich wieder für einen Moment eine Zäsur, jetzt müsste die Aufdeckung doch Konsequenzen haben: Doch schon am Wochenende danach waren die Bundesligastadien voll, das Merchandising läuft weiter, TV-Abos verkaufen sich rege. Was hilft es denn, wenn der Schauspieler Peter Lohmeyer die Dokumentation zu den neuesten Leaks als erbitterter Fan eröffnet, wenn er dabei ein Trikot von Schalke trägt und in einer Kneipe bei einem Match mitfiebert? Das ist es ja gerade, man kann nicht über die Veränderungen im Fußball jammern, nostalgisch auf die Siebziger glotzen, wo alles noch näher am Fan war und dann Wochenende für Wochenende einschwenken in die La Ola. Trikot ausziehen, Stadionabstinenz, Abo kündigen, Sportberichte boykottieren: Der Fan hat es doch in der Hand. Aber offenbar nicht im Kopf.
Dieses Problem wäre noch nicht mal existenzieller Art. Ohne Fußball kann man leben – ohne Job bei VW sieht es schon schlechter aus. Wenn es mich auch enttäuscht, dass Ungerechtigkeiten wie jene um die Abgas-Software nicht die Massen mobilisiert, so kann ich das doch nachvollziehen. Keiner ist gerne der Märtyrer im Namen der Gerechtigkeit. Das dankt einem letztlich keiner.
Bei KenFM titelte neulich Dirk Pohlmann »Wenn Medien etwas ändern würden, wären sie schon längst verboten«. Dieses Gefühl ist ja nicht so ganz neu, aber stets dann, wenn ich merke, dass guter, investigativer Journalismus was tatsächlich Großes aufdeckt, und man spürt, dass es eigentlich völlig gleichgültig ist, ob er das tut oder nicht, komme auch ich zu dieser bitteren Erkenntnis. Das ist mir dann ein innerer Abgesang an die Aufklärung. Eigentlich funktioniert sie gar nicht mehr. Albrecht Müller formulierte das neulich so: »Es kracht im Gebälk der Aufklärung.«
Es bringt ja nichts, wenn wir jetzt so tun, als habe das Prinzip der Aufklärung, die Ausstattung der Vielen mit Wissen, früher unglaublich gut geklappt. Das wäre unberechtigte Nostalgie, etwas für ein Jahrgangstreffen, auf dem man sehnsüchtig zurückblickt auf Zeiten und Orte, die es nicht mehr gibt. Ganz so war es nämlich nie. Gewandelt hat sich dennoch etwas. Als Wallraff Ungerechtigkeiten aufdeckte, beschäftigte das nicht nur das Land – er sensibilisierte und schuf Grundlagen zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Sujets seiner Undercover-Arbeit. Wallraff gibt es noch, er hat heute ein ganzes Team bei der Hand. Manches was seine Leute aufdecken, offenbart den betrügerischen Zustand ganzer Sparten und Branchen. Man nehme GLS als Beispiel. Für den Paketdienst ist Wallraff vor Jahren verdeckt gefahren, dabei prangerte er Lohndrückerei, Zeitdruck, Stress und prekäre Strukturen an. Und was hat sich dadurch verändert? Wir alle bestellen mehr im Internet denn je – und viele beschweren sich recht arrogant über die Zusteller, die ihnen nicht ausreichend genug in den Arsch gekrochen sind beim Zustelltermin.
Das wäre noch in den Achtzigern anders verlaufen. Man hätte sicherlich Alternativen gesucht und gleichzeitig als Kunde die Zusteller nicht weiterhin wie Sklaven der Straße behandelt. Wissen war vielleicht nicht Macht – aber Wissen war die Grundlage, etwas zu machen. Das hat sich massiv verändert. Wir wissen so viel über die Welt, die uns umgibt, so viel wie nie zuvor. Geheim bleibt nur mehr wenig. Das dieser irdische Platz ein Ort ist, in dem es fair und herzlich zugeht, glaubt kein Mensch mehr wirklich. Tut er das doch, liegt es an Drogen, Esoterik oder gepflegter Vollverblödung. Diese Welt ist ganz klar entzaubert.
Aber ohne Gemeinsinn, besser gesagt, ohne eine politische Agenda, die sich ganz deutlich in den Dienst der öffentlichen Sache, der res publica, stellt, ja ohne einen Republikanismus diesem Wortsinne nach, darf man von den Strukturen der Aufklärung wohl nicht allzu viel erwarten. In einer Gesellschaft, in der jeder fortdauernd mit Selbstoptimierung und individuellen Ansprüchen beschäftigt ist, wo menschliche Lebensläufe als Ego-AGs begriffen werden, da ist wenig Spielraum dafür, einen Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zu finden. Das Wissen über die Ungerechtigkeiten der Welt, ist ja stets ein Wissen darüber, wie es anderen ergeht, wie andere leiden und beschissen werden. In einer Individualgesellschaft wie der unseren spielt diese Komponente nun wirklich keine zu große Rolle.
Aufklärung war ja ursprünglich nur bedingt als individueller Prozess gedacht. Das Subjekt der Veränderung, so die Aufklärer, ist der Stand derer, die mit voller Absicht im Dunkeln belassen werden. Nicht umsonst nennt sich die Aufklärung im Französischen auch das Siècle des Lumières, also das Jahrhundert der Lichter oder der Beleuchtung. Aufklärung war ein kollektives Anliegen, ausgerichtet auf ein soziales Wesen, welches sich seines Standes im Gemeinwesen bewusst war. Ohne dieses Bewusstsein hilft das alles nichts, da kann man aufdecken, recherchieren und ans Licht holen, was man will. Jucken wird es immer weniger. Aufklärung hat einen solidarischen Impetus. Ohne den bricht das Gebälk der Aufklärung auseinander. Auch das ist Wissen, das wir eigentlich haben – es verändert nur nichts. Wissen ist Ohnmacht.
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