Politische Beobachter sind sich sicher: Das Modell der Volkspartei ist tot. Gründe gibt es viele, gemeinhin erklärt man das Phänomen mit der schönen neuen Welt. Sie sei so komplex, eine Partei könne nicht mehr alles unter einen Hut kriegen. Vielleicht ist es jedoch viel banaler: Denn Parteien, die keine Ahnung vom Leben des Volkes haben, können keine Volksparteien sein.
Binsenerkenntnis des Augenblicks: Die Zeit der Volksparteien ist vorbei. Liest man jetzt oft. Noch öfter als vor Jahren. Einfach mal bei Google »Die Zeit der Volksparteien ist vorbei« einpflegen. 6.500 Einträge bietet die Suchmaschine an. Bei so einer spezifischen Suchanfrage ein recht hoher Wert. Die Floskel klingt ja aber auch griffig. Irgendwie nach Zäsur, nach historischen Breaking News und nach der ganz großen Zeitenwende. Auf sowas steht man momentan, irgendwas liegt in der Luft, was genau weiß man allerdings nicht. Jede Veränderung könnte Weltgeschichte machen, sogar die Volksparteien, die keine mehr sind.
Argumente, warum das so ist, gibt es mancherorts dann auch. Natürlich passend zum Feeling: Das sei historisch bedingt, die Welt habe sich verändert, Globalisierung und so, Wettbewerbsfähigkeit und so, die Milieus seien in der klassenlosen Gesellschaft (Es darf gelacht werden!) aufgelöst. Ganz falsch sind die Erklärungsmodelle ja auch gar nicht. Was mich stört daran: Viel banalere Gründe werden einfach ausgeblendet, die historische Komponente ist natürlich auch ziemlich praktisch, die wirkt wie ein Naturgesetz, bei dem man machtlos daneben steht.
Wahr ist aber auch, dass diese Volksparteien Kader heranzüchteten, die keinerlei praktischen Bezug zur real existierenden Welt da draußen aufweisen. Es mangelt ihnen an Bürgernähe, Einfühlungsvermögen und Erfahrung. Man hat endogene Parallelgesellschaften entwickelt, aus denen heraus man hervorlugt, ohne je Bodenkontakt zu haben. Salopp gesagt, Parteitechnokraten, die zu blöd sind, um halbwegs zu begreifen, wie Otto Normalo und Frau Omnes leben (müssen), haben den Volksparteien sukzessive das »Volk« entzogen.
Man muss gar nicht weit schauen, zwei Beispiele aus der aktuellen Debatte belegen, wie weit weg diese technokratische Parteipriesterkaste sich entfernt hat. Fallbeispiel 1: Lars Klingbeil, der ein staatlich finanziertes Sabbatical nach zwölf Jahren Arbeitsplatz in Aussicht stellt. Wie vermessen die Idee ist, dass jemand ein Jahr lang von monatlich 1.000 Euro leben kann, der vielleicht vorher im Niedriglohnsektor buckelte, sagt viel über die Realitätsverweigerung in diesem Milieu aus. Die ganze Idiotie des Vorschlags hat Jens Berger neulich beackert. Fallbeispiel 2: Jens Spahn, der Kinderlose einen Zuschlag in die Gesundheitskassen entrichten lassen möchte. Betroffen wären davon auch diejenigen Leute, die in prekarisierten Arbeitsgelegenheiten feststecken, daher keine Familie gründen und die dafür auch noch finanziell zur Verantwortung gezogen werden sollen.
Ein weiteres Beispiel wäre Friedrich Merz, der kürzlich darlegte, dass er Millionär sei, zwei Flugzeuge besitze, sich aber trotzdem als Mitglied der »gehobenen Mittelschicht« betrachte. Diese Selbsteinschätzung ist so extrem weltvergessen, dass sie schier außer Wettbewerb läuft. Die Mittelschicht erodiert, alles befindet sich in Verunsicherung, rutscht in unübersichtliche Verhältnisse ab, aber der Millionär ist noch einer aus der Mittelschicht. Was glaubt jemand, der so spricht, wie der normale Zeitgenosse so lebt? Womöglich glaubt er ja, dass jemand aus der unteren Mittelschicht immer noch gut 100.000 Euro jährlich zur Verfügung hat und, wenn schon kein Flugzeug besitzt, so doch wenigstens einen Helikopter.
Das Ende der Volksparteien hat auch und besonders diesen ganz banalen Grund – der im gesamten Kontext natürlich auch eine historische Dimension hat. Denn die verlorene Bodenhaftung von Leuten, die von Wählerinnen und Wählern in die Lage versetzt wurden, für deren Belange zu streiten, hat es so in der Nachkriegszeit noch nicht gegeben. Viele der Altvorderen waren streitbar, haben sich auch bereichert, faule Geschäfte abgewickelt. Aber wie die Omnes leben, das hatten sie trotzdem nie vergessen. Das hatte wesentlich mit ihren Lebenserfahrungen zu tun, ihre Biographie war kein durchgestylter Business-Plan – es war aber damals auch nicht möglich, sich in einem luftleeren Raum zu bewegen, der dann auch noch parteilich abgeschottet wird, wie das heute Normalität ist.
Nein, ich glaube nicht, dass die Zeit der Volksparteien per se vorbei sein muss. Die Frage darüber ist an sich eine Personaldebatte. Wen und wie man jemanden innerhalb der Parteien aufstellt und mit Verantwortung ausstattet: Hier entscheidet sich, ob die beiden Parteien eben nur Parteien bleiben oder wieder Volksparteien sein könnten. Wenn die Menschen aber den Eindruck haben, dass ihre Volksvertreter keine Ahnung vom Leben ihrer Wähler haben, dann bleiben nun mal die Stimmen aus. Desinteresse hat nun mal Konsequenzen.
Schon klar, alleine daran liegt es auch nicht, dass die politische Landschaft in Schieflage geraten ist. Aber diesen Punkt von der fehlenden Bügernähe auszublenden, wie das in parteilich-medialen Komplex üblich geworden ist, zeugt deutlich davon, dass man zu einer Sache nicht bereit ist, auch wenn man beständig so tut, als sei man drauf und dran: Brutalstmögliche Analyse der parteilichen Krisen. Denn dann wäre der Elitarismus auch ein Thema, dann müsste man Leute fördern, die Praktiker sind – keine studierten Theoretiker, die noch nie einen Fuß in eine Arbeiterwohnung gesetzt haben. Das täte aber weh, kostete manchem den Kopf und die Karriere. Deshalb lieber salbadern als aufklären.
Und so vermehren sich die Tagträumer, Traumtänzer, Ahnungslosen und Ignoranten in den Organisationen der Parteien und sorgen dafür, dass Volksparteien aus der Mode geraten. Was bleibt sind kleine Gruppen, die wie in einem Mikrokosmos über eine Welt sprechen, die sie nicht kennen. Dieses Völkchen ist spezialisiert an der Deutung der Verhältnisse, ohne ein Verhältnis zu den Verhältnissen aufzubauen. Genauer gesagt könnte man sagen, dass die Volksparteien zu Parteien eines komischen weltabgewandten Völkchens geworden. Die Zeit der Volksparteien scheint momentan vorbei zu sein – wir leben stattdessen in Zeiten von endogenen Völkchenparteien.