… oder: Was braucht es, um den Tod anderer Menschen in Kauf zu nehmen?
Eine Fiktion
Als die Drohne ihr Ziel ansteuerte, war klar, dass sie es nicht verfehlen würde. Unklar dagegen war, ob das Ziel tatsächlich das richtige war. Aber das spielte in diesem Moment keine Rolle mehr. Unbarmherzig und präzise folgte sie ihrer Aufgabe der Zerstörung.
Amir war nicht zu Hause, als die Einschläge kilometerweit zu hören waren. Aber seine Eltern waren dort. Sie litten nicht, hieß es später, alles sei sehr schnell gegangen. Nur nicht für Amir. Er sah kurze Zeit später die Einzelteile seiner Eltern, seiner beiden Brüder und die seiner Schwester. Sie ließen sich nicht zuordnen, aber es waren Hände, Füße, Teile von Beinen und Armen. Und da war Blut, sehr viel Blut. Um ihn herum hörte er Schreie, er wusste nicht, von wem, aber sie waren laut, wehklagend, anklagend. Amir konnte nicht schreien, er fühlte sich wie in einem Kokon, einem Vakuum, nahm die Geräusche nur gedämpft wahr, als wären sie mit einem großen, dicken Tuch oder Teppich abgedeckt worden. Auch konnte er nicht richtig sehen, es mag am Staub gelegen haben, oder an anderen Substanzen, von denen er nichts wusste. Ihm tränten die Augen, das Atmen fiel schwer.
Zu diesem Zeitpunkt war Amir 14 Jahre alt.
Er kam bei Verwandten unter. Zur Schule ging er nicht wieder. Sie war sowieso längst zerstört worden, aber auch wenn es sie noch gegeben hätte, wäre Amir nicht dorthin gegangen. Er sah keinen Sinn darin. Lieber las er Bücher, die ihm empfohlen wurden. Er sprach nicht mehr viel. Früher hatte er viel gelacht, hatte mit seinen Geschwistern und Freunden gespielt, Musik gemacht, über die Zukunft gesprochen, er wollte Arzt werden, Kinderarzt. Weil er Kinder liebte. Das war nun vorbei. Seine Verwandten redeten ihm gut zu, sagten, er habe Talent, könne noch immer Kinderarzt werden, die Zeit würde besser werden, er würde die Chance erhalten, eine Ausbildung zu machen, um andere Menschen zu heilen. Doch Amir hatte nach dem Tod seiner Familie weitere Menschen sterben sehen, auch Kinder, Frauen, Männer, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren. Er glaubte nicht daran, dass man Kinder heilen könnte, die bald nicht mehr leben würden. Die Depression kam zu ihm, breitete sich ohne Anmeldung oder der Bitte um Eintritt aus, sie begann, ihn zu dominieren, redete ihm zusätzlich die Idee aus, Kinderarzt zu werden, irgendetwas zu werden. Sie machte Amir unmissverständlich klar, dass er überhaupt nichts mehr werden würde. Weil er nichts mehr war und nichts mehr hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war Amir 17 Jahre alt.
Die Depression ging, zumindest schien es so. Besser wurde es dadurch nicht. Denn die nächsten Toten waren seine Verwandten, die, die ihn nach dem Tod seiner Eltern bei sich aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatten. Erneut war Amir nicht dort, als es geschah, und er hasste sich dafür. Niemand wollte ihm sagen, ob es wieder eine Drohne war, die den Tod aus der Luft gebracht hatte, oder ob es schlicht Gewehre oder Giftgas waren, die seine Verwandten das Leben gekostet hatten. Niemand sagte etwas zu Amir. Er müsse jetzt stark sein, hieß es. Vielleicht gäbe es woanders eine Chance, in Europa womöglich. Aber Amir wollte nicht nach Europa. Er kannte dort niemanden, sprach die Sprachen der Europäer nicht, kannte sich mit der Kultur nicht aus, wusste nicht genau, was in Europa gegessen wird, und Kinderärzte gab es dort sicher auch genug. Was also sollte er tun in Europa, was sollte er arbeiten, wie sich verständigen? Amir blieb zunächst in seinem Land, doch da war fast niemand mehr, der ihm etwas bedeutete, alle waren tot.
Zu diesem Zeitpunkt war Amir 19 Jahre alt.
Nach wie vor las Amir viel. Er hatte einen Laptop, und er hatte Möglichkeiten, sich Nachrichten aus aller Welt anzusehen. Je mehr er las, je mehr er sich interessierte für die Dinge, die in seinem Leben passiert waren, desto klarer wurde ihm, dass die Drohne, die seine Eltern getötet hatte, einem Befehl gefolgt war. Dass es jemanden gab, der einen Knopf gedrückt hatte, der den Tod als Teil seiner Aufgabe, seines Jobs verstanden hatte. Und dass auch er den Befehl erhalten hatte, diesen Drohnenangriff auszuführen. Amir sprach nur noch mit wenigen Menschen, weil es nur noch wenige Menschen gab, mit denen er hätte reden können. Aber er traf andere, die ebenfalls Menschen verloren hatten, andere, die wieder andere kannten, die behaupteten, sie hätten eine Lösung für ihr Problem. „Ihr Problem“, dachte Amir, bestand darin, alles und jeden verloren zu haben, der wichtig war. Je mehr er mit den Menschen sprach, die nun sein Leben dominierten, desto wütender wurde Amir. Er war froh, denn die Depression war vollständig verschwunden, sie war einem Gefühl der Wut gewichen, einem Gefühl, das ihm Kraft zu verleihen schien. Er verdrängte, dass diese Kraft immer wieder von Trauer, Mutlosigkeit und einem schier unerträglichen Vermissen abgelöst wurde, von Gefühlen, die ihn wieder in tiefe Verzweiflung und Stille verfallen ließen. Das waren nicht die Gefühle, die er zulassen konnte, nicht zulassen wollte, denn in Amir wuchs der Wille zum Kampf, und ohne es zu merken, wurde aus diesem Kampfeswillen die Gier nach Rache.
Zu diesem Zeitpunkt war Amir 21 Jahre alt.
Als Amir den gestohlenen Transporter in die Menschenmenge in einer Stadt in Deutschland steuerte, fühlte er sich für einen kurzen Moment gut, befreit, wissend, das Richtige zu tun. Da war ein weiteres Gefühl, ein Empfinden dafür, dass er nicht die wahren Schuldigen treffen werde. Aber das hatte er zuvor lange und ausgiebig mit seiner neuen Familie diskutiert, und sie alle hatten ihm klargemacht, dass es keine Falschen treffen könne. Die Menschen, die Amir überfuhr, waren allesamt Sünder, Mörder, zumindest aber Wissende, die die Morde an seiner Familie nicht verhindert hatten, die sie guthießen und die wahren Verantwortlichen unterstützten und verteidigten. So redete Amir es sich ein. Und es waren die, so fühlte es Amir mit tiefster Überzeugung, die ihn und sein Volk hassten, die ihn ausbeuteten, mit Missachtung bestraften und sein Leben und seine Familie und seine Überzeugungen und Wünsche für verachtenswert hielten. Sie hatten zugelassen, dass der Tod über Amir und seine Familie kam. Amir hoffte inständig, dass unter den Opfern kein Kinderarzt war. Aber auch darauf konnte er nun keine Rücksicht mehr nehmen.
Zu diesem Zeitpunkt war Amir 23 Jahre alt. Weder er noch seine Opfer sollten ihren nächsten Geburtstag erleben. [InfoBox]