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Informationszeitalter? Informationszeit, Alter!

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Gab es jetzt Menschenjagden in Chemnitz oder nicht? Den Fall Skripal musste ich mir einst erklären lassen von Kollegen. Ich klinke mich immer öfter aus aus den aktuell geführten Debatten. Eigentlich eine fatale Haltung für einen, der sich einen Teil seines Lebensunterhaltes im Medienbetrieb verdient.

Natürlich habe ich im Nachgang von Chemnitz wahrgenommen, dass plötzlich eine Debatte darüber geführt wurde, ob es denn nun Menschenjagden durch die Stadt gab oder nicht. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutzes hat mit dem Sujet auch was zu tun. Er war wohl skeptisch. Mittlerweile kam ja heraus, dass der Mann ganz andere Probleme hat und macht. Da geht es ihm wie Horst Seehofer. In den sozialen Netzwerken entbrannten wilde Diskussionen, die wie Weltanschauungsfights ausgetragen wurden. Spekulationen, Gegenspekulationen, dazu viel Wut und persönliche Angriffe auf jene, die unliebsame Ansichten vertreten, was heißt: Meinungsfreiheit ist erlaubt – solange es die als richtig angesehene Meinung ist. Wie gesagt, das habe ich alles wohl mitbekommen. Aber so ganz genau, was jetzt da wahr und was Fiktion ist, bin ich nicht durchgestiegen. Nicht, weil alles so komplex wäre – nein, ich habe mich aus der Sache ausgeklinkt. Und das passiert mir momentan immer wieder, immer öfter, ja immer lieber.

Aktenkundig wurde das schon mal. Vor einigen Monaten, als alle Welt über Skripal schrieb, berichtete, spekulierte, stritt. Das ging schon seit Tagen so und ich habe nur immer hingeschielt, mich nicht damit befassen wollen. Meine geschätzten Kollegen, Tom Wellbrock und Andreas Klünder, haben mich dann podcastend aufgeklärt. Hätte ich es damals nicht erfahren, ich wäre wohl irgendwann auch nicht dümmer gestorben.

Beim einem der letzten Podcasts sagten meine Mitstreiter hier dasselbe, auch sie klinken sich aus. Und das immer öfter, immer gezielter und mit voller Absicht. Mir geht es demnach so wie vielen. #WirSindMehr – oder werden jedenfalls immer mehr. Mehrheiten ranschaffen: Das scheint heute mehr und mehr nur noch in diesem Metier machbar zu sein. Eine DPD, eine Desinteressierte Partei Deutschlands, die einfach nicht mehr hinhört, wenn faktenlos und spekulativ salbadert wird: Die könnte eventuell eine Zukunft haben.

Eine blöde Crux hat mein Wahrnehmungsverweigerung natürlich schon: Ein Standbein meiner Existenz ist das, was man mal Bloggen nannte und was heute ein bisschen großkotzig Publizistik heißt. Was die Leute antreibt, worüber die quatschen, womit sie sich beschäftigen: Das ist eigentlich in meinem Fall ein Teil des Berufs. Ich müsste es mir antun, einfach bloß um up to date zu sein.

Oder wird nicht andersherum ein Schuh aus der Affäre? Müsste man nicht gerade, wenn man sich so sein Geld oder ja wenigstens einen Teil seines Lebensunterhalts verdient, nicht extra aus solchen Diskussionen heraushalten? Wenn man so sieht, wie große Zeitungen sich mittlerweile an dem orientieren, was in sozialen Netzwerken irrlichtert, dann muss man sich schon fragen, ob journalistische Qualität so überhaupt auch nur denkbar ist.

Ich meine, nie war Information so einfach zu erlangen wie heute. Das Informationszeitalter ist im Grunde Wirklichkeit geworden, der Bürgerreporter, der zu jeder Sekunde seine Wirklichkeit dokumentieren und publizieren kann, entkräftet ja doch eigentlich die alte Befürchtung, von Journalisten einseitig informiert und vorgeführt zu werden. Trotzdem habe ich nie zuvor in meinem Leben das Gefühl gehabt, so mies informiert zu sein wie heute. Und das, obgleich ich informiert sein sollte – und ja auch bin. Sind meine Ansprüche nun zu hoch? Oder spüren andere das auch, dass sie zwischen potenziellen Informationsangeboten aufgerieben werden? Klar, die Medien sind politisch gebunden. Jedenfalls die öffentlich-rechtlichen. Die anderen klammern sich an Werbekunden. Unabhängigkeit muss man sich leisten können. Aber dass selbst Bürgerjournalisten, ich nenne sie einfach mal dreist so, nicht zu mehr Transparenz beitragen, lässt schon resignieren.

Vor Jahren gab es in Großbritannien einen Werbespot, ich weiß nicht mehr für was oder wen, ich weiß ehrlich gesagt nicht mal mehr, ob es in Großbritannien war. Da lief ein stoppelbärtiger Kerl auf eine Oma mit Handtasche zu. Die Kamera fing die Szene ein. Es war klar, gleich geht es der vom Konto abgeholten Altersrente an den Kragen. In einer anderen Einstellung sah man, dass der Oma gleich ein Unfall drohe, irgendwas schwebte über ihr und der Läufer lief an zur Rettungsaktion. So oder so ähnlich lief die Geschichte. Bilder lügen nun mal. Wenn jemand was mit der Kamera seines Mobiltelefons filmt, dann ist das immer nur ein Ausschnitt aus einem Gesamtbild – insofern bin ich da immer schon skeptisch gewesen. Ein Grund, warum mich der Streit über gefilmte Hetzjagden ja oder nein nicht kümmerte. Man weiß wenig und die wenigen Infofragmente, die dazukommen, machen die Ratlosigkeit nicht geringer.

Deshalb muss man manchmal auch was stehenlassen. Die Suche nach der Wahrheit, die scheint mir heutzutage ohnehin ein skurriler Fetisch zu sein. Es gibt sie nicht, aber das will keiner mehr hören. Sie hat immer Facetten und Schattierungen. In manchen Fällen täte es der Debattenkultur richtig gut, wenn man sagte, dass man nichts Genaues wisse, alles für möglich halten könne, darob aber nicht in Panik verfallen sollte. Wo ist denn verdammt nochmal unser Stoizismus hin?

Ich habe schon mal darüber geschrieben, dass ich an sich so ein Faktentyp bin bzw. dass ich von klein auf so angelegt war. Ohne Beweise, die stichhaltig sind, nehme ich Sachverhalte stets als vage und Eventualität wahr. Indizien sind mir in manchen Angelegenheiten zu wenig, da bin ich stoisch. Man kann spekulieren, aber dann bitte immer in alle Richtungen – denn wo nichts sicher ist, da ist alles denkbar. Aber wenn ich von Sujets als sicher spreche, möchte ich nicht mit spekulativem Spekulatius konfrontiert werden. Diese Haltung gab es früher sicher öfter. Heute fehlt sie. Stoizismus täte uns echt gut. Füße stillhalten oder hochlegen. Abwarten und Radler trinken. Aber Wahrheitskriege ausfechten, weil man glaubt, die eigene Teilwahrnehmung ist die ganze Wirklichkeit, zu der man jetzt seine Bubble und darüber hinaus verhelfen muss: Das ist bestenfalls psychisch krank. Und scheiße aber auch, da draußen ticken viele nicht wirklich rund.

In Stunden kühlen Mütchens rede ich mir ein, dass ich mich aus Facebook zurückziehe. Jetzt in diesem Augenblick, da ich diese Zeilen tippe, geht das Gerücht durch die Community, dass Ken Jebsen seinen Account gelöscht hat. Angeblich hatte er die Schnauze voll vom Netzwerk und seinen Gepflogenheiten. Bis ich diesen Text veröffentliche, so viel sei zu meiner Arbeitsweise dann verraten, kann sich das Gerücht als Ente erwiesen haben. Ich glaube wirklich, der Journalist und Chronist, könnte viel bessere Arbeit abliefern, wenn ihm nicht dauernd das Netzwerk im Genick sitzt. Es bleibt mehr Lebenszeit, mehr Raum zum Selbstdenken und man spart sich viel Ärger darüber, irgendwie immer den Eindruck haben zu müssen, die menschliche Rasse postet sich in den Untergang. Ich werde kühl und stoisch abwarten, bis ich Beweise für den Untergang habe, erst dann werde ich panisch. Bis dahin ist vielleicht noch alles möglich.

So gesehen, vielleicht ist es sogar innovativ, dass man immer öfter weghört, wegsieht und wegliest, wenn sich bei Zuckerberg unterm Sofa gerauft und gezankt wird. Auf Netzwerke scheißen: Mensch, klingt doch wie ein neuer Avantgardismus. Das muss ich gleich mal meiner Community erzählen …

[InfoBox]

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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