Der größte Vorwurf an Wagenknecht und #aufstehen lautet: Sie agierten nicht internationalistisch. Aber was soll die Absicht, Fluchtursachen vor Ort abzustellen, sonst sein, als ein Bekenntnis zum Internationalismus? Innerhalb des linken Diskurses läuft mächtig was schief.
Einer nationalistischen Linken, wie sie sich unter dem Label #aufstehen sammelt, haben viele linke Linke die Mitgliedschaft verweigert. Für sie ist eine Linke, die auf Ebene des Nationalstaates wirkt, nicht nur ein Irrweg – sie ist Verrat. Denn der Internationalismus, ureigenstes Metier der Linken, würde hier mit Füßen getreten. Das war dann auch ein häufiger Vorwurf in der linken Filterblase an #aufstehen und Sahra Wagenknecht. Sie würden nicht mehr internationalistisch denken, sondern kleinkariert dem Nationalismus in die Puschen helfen. Insbesondere, als Wagenknecht nochmals bekräftigte, dass der Import von Fachkräften ein Missstand sei, bei dem beide Seiten als Verlierer eines solchen Arrangements zu bewerten seien (nämlich in Deutschland lebende Arbeitssuchende wie Arbeitnehmer ebenso, wie die Volkswirtschaften, die ausbilden lassen und die ihre Fachkräfte dann an das Ausland verlieren), brandete erneut Ablehnung auf. Denn so eine nicht internationalistisch tickende Linke will und braucht angeblich keiner.
Da läuft wirklich mächtig was schief im linken Diskurs. Internationalismus wird hier – ob nun absichtlich, fahrlässig, aus Mangel an besserem Wissen oder mit Kalkül, das sei mal dahingestellt – völlig falsch interpretiert. Die internationalistische Linke sah sich ja nie als Internationale der Grenzenlosigkeit, in der alle Völker, Nationen und Volkswirtschaften übergangslos ineinander aufgingen. So vermessen war kein Internationalist je. Internationalist zu sein hieß, dass man gemeinsame Ziele vor Augen hatte, die aber im Rahmen seiner nationalen Möglichkeiten umsetzbar sein sollten. Der linke, sprich der marxistische Internationalismus war mehr als eine Form des Föderalismus gedacht, selbst Stalin kassierte recht schnell etwaige leninistische Megalomanien vom verfassungsrechtlich angestrebten Weltstaat, setzte dem einen »Sozialismus in einem Land« entgegen, eine Theorie, die zwar internationalistische Grundpfeiler hatte, aber so viel Realismus walten ließ, nicht in planlose Grenzenlosigkeiten zu verfallen.
Und die Proletarier aller Länder, die sich vereinigen sollten? Waren die nicht Ausdruck puren, grenzenlosen Internationalismus‘, der jetzt bei #aufstehen nichts als lächerlich gemacht wird? Marx und Engels verstanden diesen Aufruf als Schärfung des Klassenbewusstseins, erhofften sich durch die Folgen des Manifests eine parteipolitische Organisation, die zwar über die Grenzen hinweg fungieren, aber innerhalb der vorherrschenden Grenzen wirken sollte. Zu deren Zeiten ging die Freizügigkeit in Europa freilich nicht so leicht von der Hand, von den Füßen besser gesagt, wie das heute der Fall ist. Marx und Engels sahen sich ja gar nicht der Frage ausgesetzt, wie das mit starker Zuwanderung laufen sollte.
Klar gab es seinerzeit auch keine strikten Grenzen und isolationistische Regimes in Europa. Europa bewegte sich. Aber Zuzug von außen gestaltete sich recht übersichtlich, die vereinigten Proletarier sollten ja nicht im Weltstaat aufgehen, von fallenden Grenzen profitierten (oder nicht). Wie ein solcher Staatskoloss regierbar bleiben sollte, insbesondere im Hinblick auf Größe und regionale Unterschiede in Tradition, Rechtspflege und Geographie, war für damalige Denker noch schwieriger vorstellbar als es für heutige Denker, die von der Kommunikationsrevolution der letzten Jahre wissen. Gemeint war seinerzeit wesentlich die proletarische Vereinigung im Klassenbewusstsein. Nicht hilflos zu sein, sich als Klasse organisieren zu können, um als historische Entität zur Entfaltung und zur Verrichtung des historischen Auftrages zu gelangen: Diese Vorstellung nahm sich internationalistisch aus.
Die, die heute als Verfechter der internationalistischen Idee fungieren wollen, setzen den Internationalismus mit No-Border-Rhetorik gleich, mit der sukzessiven Etablierung eines übernationalen Gebildes, in dem die Grenzen abgeschafft gehören – und zwar ohne viel Federlesens. Das aber ist nicht der historische Internationalismus, in dessen Namen sie zu sprechen vorgeben. Der war sich immer seiner nationalen Begrenzungen bewusst. Natürlich sollten die Arbeiter sich ihres Standes bewusst sein. Ob nun Arbeiter in Deutschland oder in Russland: Vereinigt euch, gemeinsam seid ihr stark, zumal ihr ja die Werktätigen, die Produktiven, die eigentlichen Macher des Materiellen seid! – so weit die Botschaft. Von einem Unterbietungswettbewerb internationalistischer Ausformung las man nichts. Dass es verschiedene Prämissen in verschiedenen Ländern gab: Die damaligen Internationalisten haben das nicht einfach ignoriert.
Dass ja dann der Sozialismus in Russland real zu existieren begann, war für sie wider aller kalkulierten Logik. Ausgerechnet dieses Russland, dieses zaristische, erst kürzlich von der Leibeigenschaft befreite Russland! Dass die deutschen Länder, später zum Deutschen Reich zusammengesetzt, in seiner Entwicklung aufgrund geschichtlicher Vorbedingungen weiter entwickelt war: Die zeitgenössische Internationale, bei aller Weltrevolutionsromantik, hat das schon kapiert, ziemlich deutlich bemerkt.
Nein, der Internationalismus, wie er in gewissen Kreisen der Linken mittlerweile begriffen wird, hat überhaupt keine historische Erdung. Er kommt vermessen daher, blind für die realen Verhältnisse und steigert sich in einen oberlehrerhaften Moralismus, den er gegenüber denjenigen anwendet, die für die Idee eines solchen internationalen Gedankens wenig Verständnis aufbringen wollen. Dabei ist er so interpretiert eine leere Hülse. Wenn man es genau nimmt, läuft es nämlich genau andersherum: Es ist nicht so, dass #aufstehen mit Sahra Wagenknecht die Idee des Internationalismus aufgelöst hat. In ihrer Vorstellung liegt eigentlich der tatsächliche, der ursprünglich verstandene Internationalismus begründet: Als föderales Bewusstsein darüber, dass Volkswirtschaften nicht isolationistisch in Grenzen verwaltet werden, ein historisches Fundament haben, auf dem sie Regelungen und Ordnung vollziehen.
Das betrifft vor allem die Arbeitsmigration. In der Fluchtdebatte gestaltet es sich ähnlich. Fluchtursachen zu bekämpfen, vor Ort für Zustände zu sorgen, aus denen Menschen nicht mehr fliehen müssen: Das ist ursprünglich internationalistisch – und nicht etwa das Gegenteil. Zu Anfang der Flüchtlingswelle haben viele gesagt, dass sie für Flüchtlinge seien. Eingebettet war das in einer internationalistischen Interpretation, die mit dieser vormals linken Idee nichts mehr gemein hatte. Denn miteinander wollte man einst anstreben, dass jedes Proletariat für sich einen Ort schafft, in dem es würdig leben kann. Dass dieser Ort an einer Stelle sein sollte, sonst nirgends: Das war nicht die Absicht.
Man sollte aus ganz bodenständigen Überlegungen heraus gegen Fluchtursachen sein – und nicht für die Flucht. Das wäre eine internationale Politik der Verantwortung. Eine, die nicht derart ins Visionäre abdriftet, dass sie den Bodenkontakt verliert. Die Bekämpfung der Fluchtursachen als einen Beleg dafür zu nehmen, dass da jemand von der Internationalen in die Nationale geswitcht ist, ist nicht nur dreist und infam: Es zeigt auch, dass die internationalistische Idee völlig falsch aufgefasst wird in bestimmten Kreisen.
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