Nach den Ereignissen von Chemnitz sprudelt es nur so an Ideen für eine Erklärung dessen, was passiert ist. Die Ansätze reichen von spontanen Entladungen bis hin zu geplanten Ausuferungen, die einem großen Plan folgen.
Zumindest der große Plan ist eher unwahrscheinlich, denn die Dynamik, die wir in Chemnitz erleben mussten, lässt sich durch die Psychologie der Massen, die Gustave Le Bon bereits 1911 in einem zeitweise verstörenden Werk niedergeschrieben hat, zumindest teilweise erklären. Le Bon war alles andere als ein humaner Denker, doch es lohnt sich, sein Buch zu lesen, das zahlreiche Erkenntnisse zu dem, was Massen bewegt, beinhaltet.
Dennoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass das, was in Chemnitz passiert ist, nicht auf diese Vorfälle alleine reduziert werden sollte. Denn es ist Ausdruck einer europaweiten Entwicklung, die so facettenreich ist, dass Chemnitz als Erklärung sowieso nicht ausreichen kann. Dieser Text soll daher nur einen Aspekt beleuchten, nämlich den, wie Massen funktionieren.
In der Masse verschwindet die Persönlichkeit
Le Bon schreibt, dass in der Masse die Persönlichkeit eine untergeordnete Funktion hat. Das mag dick aufgetragen wirken, ergibt aber durchaus Sinn, wenn man bedenkt, dass Menschenansammlungen häufig ein gemeinschaftliches Bild entwickeln, das von den ihr innewohnenden Individuen kaum noch oder gar nicht mehr hinterfragt wird. So erklären sich zum Beispiel Massenschlägereien von Fußballfans, die meist nur stattfinden, weil es zwar Rädelsführer gibt, die „den Ton“ angeben. Die meisten anderen Beteiligten aber lassen sich anstecken, mitreißen und glauben daran, was die Masse ihnen vorgibt, nämlich, dass sie im Recht und die Gegenseite im Unrecht ist. Einzelne Persönlichkeiten kommen in vergleichbaren Situationen in aller Regel nicht zum Schluss, sich gezwungen zu fühlen, mit anderen Prügeleien anzufangen. Wäre dem so, müssten wir wohl täglich an jeder Ecke Schlägereien erleben.
Die Rädelsführer, die Ideengeber, sind zwar zu Beginn einer Massendynamik wichtig, um „den Stein ins Rollen“ zu bringen. Ist das aber erst einmal geschehen, spielen sie keine große Rolle mehr, sondern sind austauschbar und von der Bewegung der Masse gewissermaßen abgelöst worden. Auch in den sozialen Medien lässt sich das oft beobachten, und schon Le Bon wusste, dass Massen sich nicht einmal an einem Ort aufhalten müssen, um eine Dynamik zu entwickeln (auch wenn er 1911 nicht Facebook im Hinterkopf hatte).
Keine Massendynamik ohne Reize
Es können sich 1.000 Menschen versammeln, ohne dass irgendetwas passiert. Oder es versammeln sich 1.000 Menschen, und es kommt zur Katastrophe. In Chemnitz kamen zwei Faktoren zusammen. Zum einen wurde durch eine Messerstecherei ein Mensch getötet. Zum anderen gab es Rädelsführer, die diese Tat für sich nutzten. Man bedenke, dass das Opfer Daniel H. offenbar gar nicht zu jenen passte, die oberflächlich um ihn trauerten, um diese „Trauer“ für Hass und Hetze zu nutzen. Zwar dauerte es gar nicht lange, bis sich herausstellte, dass Daniel H. selbst politisch links stand und mit all jenen, die sich den Kampf für ihn auf ihre Fahnen schrieben, zu Lebzeiten nichts zu tun hatte und auch nichts zu tun hätte haben wollen. Zudem war er ein Deutscher mit kubanischen Wurzeln, für die Neonazis, die für ihn loszogen, normalerweise ein Grund, sich zu distanzieren. Doch als Reiz „funktionierte“ Daniel H. ausgezeichnet. Und so wurde das Opfer funktionalisiert, um dem Hass freien Lauf zu lassen.
Eine Chemnitzerin brachte es auf den Punkt, als sie, befragt danach, warum sie gegen Flüchtlinge demonstriere, antwortete, dass man ja gegen irgendwas sein müsse, und gegen Flüchtlinge zu sein, das sei eben so schön einfach (sinngemäß).
Masse macht schlicht
Le Bon weist darauf hin, dass Massen niemals Handlungen ausführen können, die von besonderer Intelligenz zeugen. Damit sagt er aber nicht, dass die Individuen, aus denen sich die Masse zusammensetzt, grundsätzlich dumm sind. Vielmehr behauptet er – anders herum -, dass auch höchst intelligente Persönlichkeiten in der Masse ihre Intelligenz quasi „an der Garderobe“ abgeben. Das liegt an unterschiedlichen Dingen, doch der Trieb und das Gefühl von Macht spielen eine wesentliche Rolle. Triebe auszuleben, ist in der Masse leichter, Macht zu empfinden, wird durch die Masse begünstigt. Beides zusammen ergibt häufig das Zurückweichen von persönlichem Verantwortungsgefühl, womit Dummheit oder Intelligenz zweitrangig werden. Le Bon vergleicht den Zustand erregter Massen mit Menschen, die unter Hypnose stehen und nicht mehr in der Lage sind, selbst zu entscheiden, sondern in der Situation, sich den Entscheidungen des Hypnotiseurs zu unterwerfen. Dies geschieht natürlich nicht bewusst, aber es geschieht.
Auch auf die Einseitigkeit und Überschwänglichkeit weist Le Bon hin. Er schreibt:
Ein ausgesprochener Verdacht wird sogleich zu unumstößlicher Gewissheit. Ein Keim von Abneigung und Missbilligung, den der einzelne kaum beobachten würde, wächst beim Einzelwesen der Masse sofort zu wildem Hass.
Wie die Masse fühlt
Nach Le Bon spielen zahlreiche Aspekte mit hinein, die zur Gefühlslage der Masse beitragen. In diesem Text (weitere werden wahrscheinlich in Form einer kleinen, unregelmäßigen Serie folgen) soll es zunächst um zwei Gefühlsregungen gehen: Triebhaftigkeit und Beeinflussbarkeit.
Die Triebhaftigkeit erklärt Le Bon damit, dass Massen eher dazu neigen, dem Einfluss des Rückenmarks zu erliegen, als dem des Gehirns zu folgen. Grundsätzlich kann ein Reiz bei einem Individuum die gleiche emotionale Reaktion erzeugen wie bei der Masse. Aber bei einzelnen Persönlichkeiten setzt sich meist das Gehirn mit seinen pragmatischen Sichtweisen durch, das Individuum erliegt also nicht einem destruktiven Reiz (meistens jedenfalls nicht). Die Masse macht sich darüber und über die womöglich unangenehmen Folgen ihres Handelns weniger bis gar keine Gedanken, getragen durch den Trieb und dem Gefühl der Macht neigt sie dazu, Grenzen zu überschreiten, die Individuen nicht zu überschreiten wagen.
Jene von Le Bon beschriebene Triebhaftigkeit muss übrigens nicht per se schlecht sein. Sie kann zwar Henker hervorbringen, aber auch Märtyrer produzieren. In Chemnitz allerdings war Letzteres augenscheinlich nicht der Fall.
Wie die Masse sich gegenseitig beeinflusst
Während das Individuum dazu neigt, an viele Ereignisse mit Vernunft heranzugehen, lässt die Masse eher Unvernunft walten. Das liegt auch daran, dass ein Reiz, der von Meinungsgebern in einem bestimmten Sinne interpretiert wird, von der Masse schnell, meist vorschnell übernommen wird. Der Tod von Daniel H. ist dafür ein anschauliches Beispiel. Vernünftig wäre es gewesen die Straftat als eine solche zu identifizieren, womöglich, harte Strafen zu fordern. Doch die Tendenz von Rädelsführern, aus dieser Straftat eine Grundsatzfrage über geflüchtete Menschen zu formulieren, ist mit Vernunft nicht einmal ansatzweise zu erklären. Trotzdem sprang die Masse darauf an. Die darauffolgenden Ereignisse, die weitere Eskalationen zur Folge hatten und die insbesondere medienorientierte Neonazis in den Mittelpunkt rücken ließen, konnten nicht dazu beitragen, bei einzelnen Teilnehmern die Vernunft in den Vordergrund treten zu lassen, die kollektive Meinung war längst gebildet worden.
1.000 Zeugen können irren
Je mehr Zeugen eines Unfalls es gibt, desto mehr Unfallverläufe gibt es. Berichten fünf Zeugen von einem Verkehrsunfall, entstehen fünf Geschichten, wie sich dieser zugetragen hat. Leicht vorstellbar, dass bei 1.000 Zeugen kein realistisches Bild des Unfalles erzeugt werden kann. In diesem Beispiel überwiegt aber die Sicht des Individuums. Im Falle einer Massenbetrachtung dreht sich das Extrem um.
Hier können 1.000 Zeugen durchaus Gleiches vermelden und behaupten, Gleiches beobachtet zu haben. Doch da sich nicht die Individuen ein persönliches Bild machen, sondern die Masse ein gemeinsames, entsteht ein zweifelhaft gemeinsames Bild, das dennoch nicht der Wirklichkeit entsprechen muss, im Gegenteil. Le Bon beschreibt sogar ein ermordetes Kind, das zunächst von den Eltern, dann von Verwandten und sogar von Nachbarn, die das Kind entdeckt haben, als eindeutig identifiziert beschrieben wurde. Später stellte sich heraus, dass sie alle sich geirrt hatten, dass es sich um ein anderes Kind handelte. Doch die – hier sehr kleine, aber sich gegenseitig beeinflussende Masse – sah in dem toten Kind das Kind, das es nicht war. Man hatte sich unbewusst darauf verständigt, dass es so sein müsse, wie man es wahrnahm.
Und die Erkenntnisse?
Manch Leser wird sich nun fragen, was für Erkenntnisse sich aus den geschilderten Sachverhalten ergeben. Manch einer wird fragen, wer denn nun die Verantwortung trägt, ob es sich nicht doch um eine geplante Aktion handelte, angezettelt von Neonazis oder der AfD. Manch einer wird die Verantwortung der Politik behandeln wollen, die Hintergründe, die die Menschen dazu treibt, in Massen so zu handeln, wie sie gehandelt haben.
Alles richtig. Der größte Fehler ist wohl der, Chemnitz auf die Ereignisse zu reduzieren, die wir erlebt haben. Eine Momentaufnahme gibt nie Aufschluss darüber, wie eine Situation entstanden ist, sie sagt nichts aus über die Tage, Wochen, Monate und Jahre, die einem Ereignis vorausgehen.
Zudem: Die Problematik, die wir in Chemnitz gesehen und erlebt haben, ist weder örtlich zu begrenzen noch thematisch in einem Satz zusammenzufassen. Alleine die Tatsache, dass es in ganz Europa einen Rechtsruck gibt, sollte Anlass zum Nachdenken darüber geben, wohin wir uns insgesamt entwickeln. Hier nur Chemnitz in den Fokus zu rücken, wäre naiv, bequem und nicht zielführend.
Manch einer wird vielleicht nun auch kritisieren, warum ausgerechnet Gustave Le Bon als Basis dieses Textes diente. Dem halte ich entgegen, dass seine Erkenntnisse bei nüchterner Betrachtung wertvoll sind, denn sie zeigen auf, wie bestimmte Entwicklungen zustande kommen.
Und es ist hilfreich zu verstehen, wie Massen funktionieren, wie sie geführt und manipuliert werden können und dass auch scheinbar vernünftige Menschen ab einem gewissen Punkt zur Unvernunft neigen. Es geht also nicht darum, die „Dummen“ von den „Klugen“ zu unterscheiden, sondern zu erkennen, wann eine Massendynamik die Oberhand gewinnt und warum. Kaum jemand kann sich davon ausnehmen.
Und zum Schluss: Massen können auch Gutes tun, können Heldentaten vollbringen, Schlechtes zum Besseren verändern, aus Hass Verständnis machen. Es braucht mehr Rädelsführer im besten Sinne, die in der Lage sind, in diese Richtung zu denken und zu lenken, andere Menschen anzustecken mit Gedanken, die die Welt zu einem besseren Ort machen können.