Ob geflüchtet, zugereist oder in Deutschland geboren – wer in diesem Land arbeiten will, der muss ein Deutscher sein. Alles andere schadet dem sozialen Frieden, es schwächt die deutsche Wirtschaft, den deutschen Konsum und den deutschen Zusammenhalt. Nur unter strengen Voraussetzungen dürfen Ausländer – und auch dann nur, wenn sie sich für die Einbürgerung entscheiden – in Deutschland arbeiten.
Lesen Sie noch weiter? Wenn ja, könnte das Ihre – und ganz sicher meine – Rettung sein! Denn sowohl die Überschrift als auch die ersten Sätze sind ein Experiment, das ich eigentlich nicht machen wollte. Aber nach einem Text von mir, der ursprünglich die Headline „Nie war Wagenknecht so rechts wie heute!“ hatte, bin ich doch sehr ins Grübeln gekommen. Insbesondere, weil es immer wieder Gründe gibt, weiter zu grübeln.
Der besagte Text bezog sich auf die neue Sammlungsbewegung mit Sahra Wagenknecht an der Spitze, und er entstand Anfang August 2018, als der Start von „aufstehen“ für Anfang September angekündigt worden war. Der Artikel enthielt Spuren von Satire, ein wenig Zynismus, er war provokativ und ganz klar pro-Wagenknecht. Man muss nicht in der Lage sein, tiefgehende wissenschaftliche Abhandlungen über den Kapitalismus zu verstehen, um zu begreifen, um was es in meinem Text ging. Aber man muss – und damit sind wir beim Punkt – den Text schon lesen, komplett lesen.
Doch nur wenige sahen sich in der Lage, dies zu tun. Und das ist ein Problem.
Immer mehr Headline-Leser, immer weniger Leser
Wir wissen ja, dass Headlines wichtig sind. Sie wollen Aufmerksamkeit erregen, müssen Interesse wecken. Headlines und der darauffolgende Teaser sind wichtig, um die Leser „bei Laune“ zu halten, sie zum Weiterlesen zu animieren. Aber oft, sehr oft, viel zu oft funktioniert das nicht. Zahlreiche Leser beschränken sich auf das Überfliegen der Headline, bilden sich ihr Urteil und damit gleich das Urteil über den gesamten Text unter der Überschrift gleich mit. Ich spreche hier aber nicht von „BILD“-Lesern oder „Focus“-Konsumenten, über die sich aufgeklärte und fortschrittliche Linke gern mit einer gewissen Geringschätzung lustig machen.
Nein, ich spreche über aufgeklärte und fortschrittliche Linke, die nach genau dem gleichen Muster verfahren.
Was musste ich alles lesen nach meinem Text mit der „verwerflichen“ Überschrift. Das gehe ja gar nicht, man könne doch Sahra Wagenknecht nicht als rechts bezeichnen, ich sei ein „Spaltpilz“, jemand, der linkes Denken torpediere, und was weiß ich nicht noch alles. Klar, es gab eine Menge Leute, die dem entgegneten, es sei besser, meinen Text zu lesen und sich erst dann ein Urteil darüber zu bilden. Aber eben auch erschreckend viele, die sich in der Lage oder Stimmung fühlten, sich mit dem – übrigens recht kurzen – Text zu beschäftigen.
Zu ungeduldig, zu faul
Eines unserer großen Probleme dieser schnelllebigen Zeit ist die Ungeduld. Und Faulheit. Und eine Meinung, die schon in Stein gemeißelt ist, bevor wir eine neue Information bekommen und (im besten Fall) verarbeiten. Die News (wahlweise auch die Fake News) kommen im Minutentakt, vielleicht gar im Sekundentakt. Wir müssen (müssen wir wirklich?) alles schnell aufnehmen, verarbeiten, bewerten und zur nächsten Nachricht springen. Das kann anstrengend sein, besonders, wenn wir noch etwas lesen, das nächste Interessante aber schon in unserer Peripherie auftaucht. Also, schnell weiter, das Gelesene, Überflogene abhaken, um das Ungelesene einzusaugen bzw. erneut zu überfliegen. Das wird dann wiederum ebenfalls zum Gelesenen, und so geht es weiter, immer schneller und immer oberflächlicher.
Irgendwann beschränken wir uns dann auf das sogenannte Diagonallesen. Da wird der Text überflogen, es werden potenzielle interessante Stellen (kurz!) vertieft, die Urteilsbildung dauert nicht so lange, als würden wir einen gesamten Text lesen. So schaffen wir mehr in kürzerer Zeit, und gleichzeitig arbeiten wir mehr Informationen ab, wir glauben, nichts zu verpassen.
Aber wir verpassen eben doch eine Menge, selbst mit dem Mittel des Diagonallesens. Und so wechseln wir in die „Königsdisziplin“ und kommen zum Schluss: Unsere Meinung haben wir uns längst gebildet. Also brauchen wir auch keine kompletten Texte mehr zu lesen. Die Überschrift sagt ja eigentlich alles, der Autor, die Autorin vermittelt uns in wenigen, fettgedruckten Worten, was eigentlich mitgeteilt werden soll. Wir springen von Headline zu Headline, bewerten sie und bewerten alles, was nach der Headline kommt, gleich mit. Das ist das Prinzip der „BILD“-Zeitung, mit dem Unterschied, dass der Inhalt eines „BILD“-Textes meist mit der Überschrift konform ist. Bei anderen Medien ist das nicht zwingend so, vielleicht soll die Überschrift verwirren, uns auf eine falsche Fährte locken oder durch ihre Art schon vor dem Beginn zum Nachdenken anregen. Aber wir haben es inzwischen verinnerlicht. Somit folgen wir dem Anspruch des „BILD“-Journalismus, der darauf abzielt, mit wenigen Worten viel Meinung zu machen.
Das ist nicht gut. Denn wer für sich in Anspruch nimmt, Inhalte auf genau das – ihren Inhalt – überprüfen zu wollen, darf sich nicht der Methodik annehmen, die Springer & Co. seit Jahrzehnten unters Volk bringen. Die ehemals seriösen Medien wie „Spiegel“, „Süddeutsche Zeitung“ oder „Zeit“ sind längst auf die Springer-Methode angesprungen. Die Gründe dafür sind zahlreich, aber Schnelllebigkeit und Konkurrenzdruck, soziale Medien und nicht zuletzt die neoliberale Agenda, die nahezu alle klassischen Medien erfasst hat, stehen ganz oben in der Liste der Gründe für den Verfall der sogenannten „Qualitätsmedien“.
Das weiß auch der Leser, und der aufgeklärte sowieso. Er weiß das nicht nur, er sagt das auch, spricht das Problem offen an. Doch so wie die klassischen Medien dem Springer-Müll erlegen sind, erliegen immer mehr vermeintlich aufgeklärte Leser der Magie der Headline. Zeitdruck kann aber nicht der Grund dafür sein, denn jeder Leser kann sich selbst entscheiden, was er liest, nicht liest, wie viel Zeit er sich dafür lässt, ob er andere Meinungen zum gleichen Thema wünscht und sucht oder eben nicht.
Auf der einen Seite wird bemängelt, dass die Medien sich nicht genügend Zeit lassen, wirklich zu recherchieren, dass sie voneinander abschreiben und ungeprüft Meldungen übernehmen, die sich kurze Zeit später als unwahr herausstellen. Auf der anderen Seite machen Leser genau dabei mit, und weil sie – wenn auch auf einer anderen Ebene – den gleichen Zeitdruck empfinden wie die Medien, die kritisiert werden, werden sie so oberflächlich wie die Medien, denen sie Oberflächlichkeit vorwerfen.
Wie gesagt: das ist nicht gut.
Weniger Headlines, mehr Inhalt
Ich bin gespannt, wie viele „Trolle“ ich mit der Überschrift und dem Teaser dieses Textes anlocke. Aber so sehr interessiert mich das eigentlich nicht. Viel wichtiger finde ich es, dass möglichst viele Leser von Anfang bis zum Ende lesen. Und sich dann ein Bild machen. Die potenziellen Rassisten und Faschisten, die womöglich durch den ersten Absatz feucht im Schritt werden, sind da zweitrangig.
Bedeutender sind die Leser, die normalerweise hier vorbei kommen, um sich zu informieren oder zu erfahren, wie wir zu Thema A oder B stehen. Von ihnen erwarte ich, dass sie über das Überfliegen der Headline hinaus gehen. Für sie schreibe ich diesen Text, denn nach dem Artikel über „aufstehen“ haben gerade sie sich als (teilweise) völlig unfähig geoutet, den tatsächlichen Inhalt eines Artikels zu verstehen bzw. verstehen zu wollen.
Es ging sogar so weit, dass Kritiker des Textes (oder besser: der Überschrift „Nie war Wagenknecht so rechts wie heute!“) auf Hinweise anderer Leser, geradezu beratungsresistend reagierten. Ein sinngemäßes Beispiel:
A: Diese Aussage ist unmöglich! Sahra ist nicht rechts!
B: Lies mal den Text, dann wird klar, dass im Artikel davon auch nichts steht.
A: Wer behauptet, Sahra ist rechts, der will nur spalten.
B: Noch mal: Lies den Text, der Autor will nicht spalten, er überspitzt. Das wird dann deutlich, wenn Du den Artikel liest.
A: Brauch ich nicht lesen, hab ich die Zeit auch nicht dazu, die neulandrebellen sind für mich durch!
Kann man so machen. Wird aber nichts bringen. Und es sollte auch nicht das Selbstverständnis linker und aufgeklärter Menschen sein, einen Inhalt zu beurteilen, ohne ihn zu kennen. Das ist die Springer-Methode, und darauf sollte man nicht reinfallen.
Falsche Headline, selber schuld?
Nun könnte man einwenden, dass eine Überschrift wie die genannte doch Gegenwind provoziert, ein Autor sollte also nicht überrascht sein, wenn er auf Widerstand stößt. Das stimmt nicht, ohne Einschränkungen, das ist einfach nicht richtig. Denn ein Text ergibt erst Sinn, wenn er komplett gelesen und im besten Fall auch verstanden wird. Welche Stilmittel ein Autor benutzt, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, zu provozieren oder sogar die Leser zunächst auf eine falsche Fährte zu locken, das bleibt ihm selbst überlassen. Er ist nicht verantwortlich dafür, was Leser aus seinem Text machen, er muss lediglich damit leben, wenn es nicht so läuft, wie er sich das vielleicht erhofft hatte. Der Autor kann eine Überschrift wählen, von der er denkt, dass er nur „seine Leute“ anspricht, er kann eine Headline verwenden, die die Leser herausfordert. Er kann sogar eine Überschrift nutzen, die irreführend ist, so wie ich es in diesem Text hier getan habe. Die Verantwortung, den Text in seiner Gänze zu lesen, die liegt nun einmal bei den Lesern. Und wenn die der Meinung sind, darauf – auf das Lesen – verzichten zu müssen, dann ist das wiederum ihre Verantwortung.
Wir tun gut daran, wenn wir uns unsere Meinung erst bilden, wenn wir den Text eines Autors gelesen haben. Beschränken wir uns dagegen auf die Überschriften und bewerten dann, was aus diesen hervorgeht, befassen wir uns nicht mit Texten. Sondern mit dem, was wir vorher sowieso schon glaubten. So bleiben wir vermeintlich stabil. Aber auch unwissend und mit Vorurteilen behaftet.
Und noch ein Hinweis, ganz bewusst am Ende des Artikels:
Ich bin Lichtjahre vom Standpunkt der oben verwendeten einleitenden Worte entfernt, sie entsprechen nicht ansatzweise meiner Überzeugung. Vielleicht schreibe ich zu genau diesem Thema einmal einen Text. Wenn es soweit ist, würde ich mir wünschen, dass er gelesen wird.
Von Anfang bis Ende. [InfoBox]