Langzeitarbeitslose sind faul? Irrtum: Das sieht oft nur so aus. Dahinter steckt aber etwas völlig anderes. Ich sah auch auf diese spezielle Weise ziemlich faul aus, als ich noch langzeitarbeitslos war. Über Lähmung, Sozialphobie und spätbiedermeierliche Harmoniedekadenz.
Entgegen weitläufiger Ansichten hat das eigene Home, sweet Home, durchaus Konjunktur. In Zeiten, da Menschen in Kauf nehmen, auch mal anderthalb Stunden zu ihrem Arbeitsplatz zu pendeln, um danach weitere anderthalb Stunden für den Rückweg zu veranschlagen, gewinnt das eigene Zuhause durchaus an Wert. Man wohnt nicht mehr einfach: Man lebt darin. Das Zuhause wird als Komfortzone, als Rückzugsoase, als Relaxing-Area empfunden. Mal nicht raus ins Getümmel, stoisch auf dem Sofa bleiben, kein Boss, kein Trubel in der S-Bahn: Der Rückzug ins Private – Biedermeier hat Konjunktur, man mag es inmitten Zierkissen, junge Frauen tragen hochgeschlossene Spitzenkragen und Politik als Thema ist igitt. Das gibt doch nur Streit – da doch lieber biedermeierisch auf die Couch, Kaffee dazu, Chips hinterher. Das Zuhause ist ein Luxusort in einer überflexiblen, mobilen, hektischen, tayloristisch erfassten Welt.
Die bürgerliche Ablehnung der Arbeitslosen speist sich auch aus diesem Umstand, denn der Arbeitslose hat das vermeintliche Glück, stets in seiner Komfortzone verweilen zu dürfen. Er verbringt ja den größten Teil seines Alltages daheim. Es sollte unbedingt mal analytisch festgehalten werden, dass die allgemeine Abneigung der arbeitenden Bevölkerung gegen Arbeitslose einen irrationalen Versuch darstellt, die eigentliche Ausrichtung des alltäglichen Schaffens nach Geldkriterien, doch nochmal in ein Zeitkriterium zu verwandeln. Es ist eine Neiddebatte, die eigentliche Neiddebatte dieser Tage, eine verlagerte Neiddebatte nämlich, die ihr Hauptaugenmerk auf die legt, die nichts haben, um die schadlos zu halten, bei denen sich Neid lohnte. Arbeitslose haben ein Zeitkonto – und das in einer geldwerten Welt. Die Wut darüber ist ein tumber Aufstand gegen das Zeitregime, man redet sich ein, dass Arbeitslose mehr von dieser Währung hätten, als man selbst. Was stimmt, aber eben nur die halbe Wahrheit darstellt. Abgesehen davon sehen die Wellness-Domizile dieser arbeitslosen Tagediebe ja auch gar nicht so chic aus wie jene von Leuten, die ihr Home as their castle ausstaffieren.
Die eigenen vier Wände wurden also in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Ort stilisiert, an dem man die Seele baumeln lässt. Man sperrt die Welt aus. Einrichtungshäuser haben diesen Eindruck gestärkt. Wer heute ein Sofa kauft, der holt sich eine Wohnlandschaft ins Haus. Das klingt wie eine einsame Insel, von der man sich nicht mehr erheben muss, an der die Fährnisse des Alltages abprallen. Menschen, die viel Zeit daheim zubringen können, dürfen oder müssen, gelten insofern heute nicht mehr als häuslich – was vormals eine Tugend darstellte -, denn sie verbringen ihre Zeit ja an einem Erholungsort: Man stuft sie als faul ein. Da sind wir mittlerweile als Gesellschaft zielgerichtet geframt.
Natürlich verbringen Arbeitslose viel Zeit auf dem Sofa. Ich war jahrelang selbst Langzeitarbeitsloser, meine Zeitreserven, auf die alle Welt neidisch zu sein schien, habe ich nicht immer sonderlich wertvoll eingesetzt. Man kann es ja gar nicht leugnen, natürlich sitzt man auf seinem Balkon, trinkt Kaffee und guckt Löcher in die Luft. Und die arbeitende Bevölkerung zieht an einem vorbei und ist neidisch. Ist man deswegen faul? Das ist eine Frage der Perspektive, wie eben erläutert wurde. Wenn Wohnung mit Komfort und Erholung konnotiert wird, dann kann man das so sehen. Aber man ist als Arbeitsloser ja nicht so viel daheim, weil man daheim sein will. Eigentlich dreht sich ja alles nur um eine Frage: Wohin soll man denn sonst gehen?
Die Antwort auf diese Frage hat alleweil zuerst mit Geld zu tun, besser gesagt, mit dem Geld, das man nicht hat, um seinen Kaffee nicht am Balkon zu schlürfen, sondern in einem Café. Der andere Teil der Antwort ist psychologischer Natur. Als jemand, der von außerhalb ständig als Person betrachtet wird, der viel, ja sogar viel zu viel Zeit zur Verfügung steht, die ihren Tag verbummelt und stets im heimischen Ressort eine ruhige Kugel schieben kann, wird es nach und nach unattraktiv, seinen Tagesablauf nach außen zu verlagern. Dort draußen warten ja doch nur die, die dumm gaffen. Manche tun das wirklich, bei vielen bildet man es sich wohl aber auch nur ein. So wirkt die gesellschaftliche Wahrnehmung auf arbeitslose Menschen, sie treibt einen dazu, sich zu einem Stubenhocker zu entwickeln. Das gute Fernsehprogramm ist es jedenfalls eher nicht.
Es ist die schiere Resignation, die Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal, die den Arbeitslosen zu einem häuslichen Charakter erzieht. Die Situation lähmt, man ahnt ja durchaus, wie das Umfeld einen wahrnimmt – und so verabschiedet man sich sukzessive von sozialen Kontakten, man verschanzt sich in der eigenen Wohnung, genau so, wie es die neobiedermeierlichen Rückzugssehnsüchte der arbeitenden Menschen vorgeben. Letztlich bestätigt man damit die, die von außen auf die Szenerie blicken und die zu glauben meinen, hier unbelehrbare Faulheit am Werk (oder besser gesagt: am unterlassenen Werk) zu sehen.
Wo ist eigentlich die gesellschaftskritische Studie, die das Zuhause in heutiger Zeit analysiert. Wir reden gesellschaftlich viel von Wohnraum, aber wenig vom Daheim. Wie nehmen die Menschen in einer Gesellschaft, die mehr und mehr zu einem Spießrutenlauf wird, die eigenen vier Wände wahr? Stimmt es, wie die ehemalige Umweltministerin mal meinte, dass die Menschen heute die eigene Wohnung nur als Durchgangsstation nutzen, womit 25 Quadratmeter locker reichen sollten, um ein Leben in Teilhabe führen zu können? Oder entspricht es nicht viel eher der Wahrheit, dass Zuhause heute mehr denn je ein Ort ist, an dem sich Menschen in Sicherheit vor der hektischen Gesellschaft wissen? Das liest sich jetzt nicht sonderlich originell, weil das Zuhause ja nie etwas anderes war als das. Es ist umständlich zu erklären, wie das gemeint ist. Heute hat man allerdings häufig den Eindruck, dass die Wohnung als abgeschlossener Mikrokosmos wirkt. Man sperrt die Welt aus, was heißt: Man schottet sich vom Viertel, von den Nachbarn ab. Das eigene Zuhause wird so zu einer Insel inmitten des Verfalls. Der Stadtteil darbt, aber wichtig ist letztlich, dass die Wohnlandschaft ein Plätzchen bietet. Zuhause: Das war mal eine Komponente in einer persönlichen Gesamtwahrnehmung, eine Entität in der Komposition verschiedener Eindrücke. Das hat sich geändert.
Für Arbeitende wie für Arbeitslose trifft wohl gleichermaßen zu, dass sie das Daheimsein heute als Flucht begreifen, als Ausstieg von der repressiven Konsum-, Markt- und Mediengesellschaft. Es scheint, dass sich beide Gruppen nur aus verschiedenen Gründen zurückziehen. Mit Faulheit hat das nichts zu tun. Es sieht nur manchmal so aus – was, wie gesagt, mit dem zeitgenössischen Zuhausebegriff zu tun hat. Wenn sich letztlich in einer Gesellschaft der Gedanke etabliert, dass der einzige humane Platz im Gemeinwesen die eigene Wohnung ist, dann ist man freilich zwangsläufig auf die neidisch, die diese Humanität exzessiver ausschöpfen können. Dass das Zuhause eines Langzeitarbeitslosen aber kein idyllischer Rückzugsort ist, sondern eine Unterkunft, die je und je veraltet, weil der Bewohner nichts mehr in die Wohnqualität investieren kann, sondern ein durch die Umstände freiwilliges Exil, kommt bei dieser Art von Neiddebatte nie vor. Das ist die wahre Faulheit in unserer Gesellschaft: Eindimensionalität.
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