Die Zahl der Leiharbeiter nimmt zu. 1,13 Millionen Leiharbeitsverträge gab es in den letzten anderthalb Jahren. Es wird endlich Zeit, dass man diese Gruppe arbeitsmarktpolitisch so behandelt, wie es sich gebührt: Als Risikogruppe.
Leiharbeit ist ein Wachstumsmarkt. Laut Angaben der Bundesagentur für Arbeit mussten sich 1,13 Millionen Arbeitnehmer zwischen Juli 2016 und Juli 2017 mit Zeit- oder Leihverträgen begnügen. Das sei ein Anstieg von knapp vier Prozent. Im September 2016 vermeldete man ähnliches – damals hieß es: »Mit 961.000 Leiharbeitnehmern gab es im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand […] Im Jahr 2014 waren es noch rund 50.000 Leih- oder Zeitarbeiter weniger als 2015. In den Jahren davor schwankten die Zahlen zwischen 610.000 und 910.000.«
Im Jahr 2014 hatten die beiden größten Arbeitnehmerüberlassungen in Deutschland (Randstad und die Adecco-Gruppen) um die 92.000 Beschäftigte bei einem Jahresumsatz um die 3,6 Milliarden Euro. Zwei Jahre später lag der Umsatz der beiden Marktführer bei 3,75 Milliarden Euro. Im selben Zeitraum steigerten die 25 führenden Zeitarbeits- und Personaldienstleistungsunternehmen in Deutschland ihren Umsatz um ca. eine Milliarde Euro. Die Branche wächst. Sie generiert Gewinne auf Grundlage der kalkulierten Gesundheitsgefährdung ihrer Angestellten.
Leben ohne Sicherheit
Eines ist dem Leiharbeiter sicher: Dass nichts sicher ist. Ob er nächste Woche noch hier arbeitet oder ob er morgen überhaupt noch arbeitet: Man weiß so wenig. Noch was ist sicher, gewissermaßen das Gegenteil von dem, was gerade behauptet wurde: Eine Arbeitsstelle, an der er jahrelang schuftet – für weniger Geld als die Kollegen und mit der Aussicht, trotzdem nicht zum Inventar gezählt zu werden, sprich: Ohne viel Rechtfertigungen fortgeschickt zu werden. Leiharbeit ist eine psychische Belastung, vielleicht mehr als sie körperlicher Art ist. Pläne schmieden, Familie gründen, ein Auto finanzieren, umziehen, Urlaub festsetzen, einen kleinen Kredit an Land holen: Darauf darf man hoffen – aber nicht bauen. Und die kleine Sicherheit, die man sich selbst einredet, weil gerade am Entleihplatz der Laden brummt, kann jederzeit über Nacht zerschlagen sein – Entlassung beim Entleiher inklusive. Welcher Personaldienstleister bezahlt schon Personal, für das es zunächst mal keine Stelle gibt?
Diese Praxis ist eine stille Subvention der Branche. In den generierten Gewinnen sind beinhaltet, ohne dass es jemand notiert: Flugs ins Arbeitslosengeld abgeschobene Arbeitnehmer, die bei erneutem Arbeitsauftrag flugs wieder eingestellt werden. Die Sozialisierung von gewinnreduzierenden Komponenten und damit die Ausklinkung aus dem unternehmerischen Risiko: Das alles baut auf einem Fundament – auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, auf die Verunsicherung und Unkalkulierbarkeit der Lebensentwürfe dieser Leute. Die Branche bietet eigentlich nicht bloß schnelle Arbeitskraft an, sondern gezielte Sicherheitsdefizite bei denen, die sie als Arbeitskräfte anbieten. Die Verunsicherung ist insofern kein Kollateralschaden, sondern genau das Produkt, das hier feilgeboten wird. Die Folgeschäden sind überdies schon wieder so eine stille Subvention: Denn wer länger ausfällt, wegen Burnout zum Beispiel, der landet in der Arbeitslosigkeit. Verursacherprinzip? In dieser kannibalistischen Wirtschaftsordnung (Jean Ziegler) ist es nicht vorgesehen.
Wenn es Bedarf gibt, muss er etwas wert sein
Nun gut, jetzt muss man wohl etwas feststellen: Es scheint da einen Bedarf an flexibler Arbeitskraft zu geben, die in den Spitzen einfach mal in Anspruch genommen werden kann – ohne gleich die Verpflichtungen als Arbeitgeber eingehen zu wollen, die man eingehen muss, sofern man jemanden in eine Festanstellung bringen möchte. Wenn es einen Bedarf gibt, kann man natürlich über Angebote nachdenken. Leiharbeit abschaffen: Muss man doch gar nicht! Ein richtiger Schritt wäre der, dass man das Verbraucherprinzip stärkt und nicht mehr auf Sozialisation setzt, sondern auf Unternehmerrisiko. Weil wir schon von Risiko sprechen: Leiharbeit braucht keine arbeitsmarktpolitischen Reförmchen, sondern ein gesetzlich verordnetes Risikomanagement. Denn Leih- und Zeitarbeiter sind eine Risikogruppe. Und derjenige, der von diesem Risiko der Unsicherheit profitiert, der muss für sie aufkommen.
Leiharbeit braucht keinen Mindestlohn, auch keine Sonderregelungen dieses Lohnstandards, sondern einen höheren Verdienst, als es Festangestellte haben. Festangestellte können wenigstens noch hoffen, dass ihr Leben um Längen sicherer ist, als das des Kollegen, der von Randstad oder Adecco kommt. Sie kennen zumindest Kündigungsfristen, wissen, dass sie auch nächste Woche noch an Ort und Stelle arbeiten können. Der Leiharbeitnehmer muss diesen Sicherheitsverlust kompensieren. Dass er keinen festen Arbeitsplatz hat, soziale Kontakte verliert, eine austauschbare Kollegenschaft ertragen muss, Eingewöhnungszeiten quasi nicht kennt: Das muss doch bezahlt werden. Man kann doch nicht voraussetzen, dass diese Einbußen an Lebens- und Arbeitsqualität umsonst zu haben sind. Von den gesundheitlichen Folgen ganz zu schweigen.
Gleiche Arbeit + Unsicherheitsangebot = höherer Lohn als Festangestellte
Es ist nicht nachvollziehbar, warum Leiharbeitnehmer eine Dienstleistung zusätzlich ihrer Arbeitskraft anbieten müssen (nämlich Flexibilität und schnelle Integration, eiliges Umswitchen und Unstetheit als Tugend), diese Dienstleistung aber nicht nur nicht vergolten bekommen, sondern gleichzeitig auch noch mieser bezahlt werden als die festangestellte Belegschaft. Wenn sich Leistung lohnen soll, muss eine so elementare Leistung wie jene, seine Sicherheit aufzugeben, auch bezahlt werden. Die Praxis dieser stillen Subventionen, die die gesundheitliche Belastung sozialisiert und nicht als Folge einer Risikogruppe zuschlägt, gehört politisch abgestellt.
Leiharbeit ist kein Hilfsarbeiterdienst. Sie ist wesentlich mehr: Sie geht an die Substanz – körperlich wie geistig. Sie brennt mehr aus als all die Normalarbeitsverhältnisse im Lande. Hier schraubt nicht einfach ein Mechaniker Winkel an Gestelle – hier schraubt ein Mitglied einer Risikogruppe herum. Wenn dieses Risiko fehlender Sicherheit ein Teil des Geschäftsmodells ist, dann muss es auch dem bezahlt werden, der diese Leistung erbingt. Und das ist nicht der Disponent im Entleihbüro. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit also? Das ist noch zu kulant, denn gleiche Arbeit ist ja gar nicht geboten. Zum Tätigkeitsprofil am jeweiligen Arbeitsplatz kommt noch der Umstand dazu, dass man damit umgehen können muss, sich nicht zu sesshaft zu fühlen. Das müssen die festen Kollegen nicht kompensieren. Gleiche Arbeit: Davon kann also nicht die Rede sein. Mehr Lohn für gleiche Arbeit und das Unsicherheitsangebot, welches exklusiv jeder Leihangestellte als Versprechen mitbringt.
[InfoBox]