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Ist hier jemand kein Antisemit oder Verschwörungstheoretiker? Dann bitte unbedingt melden!

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Ein Hauruck geht durchs Land! Oder auch: Haudrauf. Das können die Jusos extrem gut. Die machen kurzerhand aus Jeremy Corbyn einen Antisemiten. Und Klaus Lederer (Die Linke) hat‘s auch drauf. Der bedient sich Begriffen wie „Antisemit“, „Verschwörungstheoretiker“ und noch einiger mehr, um eine Preisverleihung für Ken Jebsen zu verhindern. Was wiederum Andrej Hunko (Die Linke) gar nicht passt, und zwar zu recht! So wie auch zahlreichen anderen Linken nicht. Und so wie andere Linke das prima finden. Es geht alles doch ziemlich durcheinander im Moment. Mal wieder, denn eigentlich schien der ewig absurde Vorwurf, dass jeder kritisch denkende Mensch ein Antisemit oder Verschwörungstheoretiker sei, auf einem absteigenden Ast zu sein. Aber nun ist er wieder da. Und erstrahlt in vollem Glanz auf einem schmierig, stinkenden Untergrund, der fast komplett ohne Hintergrund auskommt. Dass sich jedoch linkes Denken dadurch nicht nur beeinflussen, sondern mitten hineinziehen lässt in die kategorische Kritik ohne Sinn und Verstand, das gibt zu denken. Und zeigt, wie einfach es ist, mit simplen Schlagworten eine Bewegung zu spalten, die sich viel zu leicht auf genau diese Methode einlässt.

Sprechen wir erst einmal über Antisemiten. Ein solcher „wird“ man schnell. Und da der Vorwurf, jemand sei ein Antisemit, schon mal justiziabel sein kann, gibt es auch schon einen alternativen Begriff: Israelhasser. Dagegen wird kein Richter was sagen können, klingt ein bisschen wie das Gegenstück zu Putinversteher. Aber im Kern ist der Vorwurf, ist die Unterstellung klar: Wer sich, in welcher Form auch immer, gegen die israelische Politik ausspricht oder sie auch nur kritisch beäugt, muss ein Antisemit … pardon: Israelhasser sein. Kritiker israelischer Politik stehen also auf ziemlich dünnem Eis. Denn wer will sich schon – gerade in Anbetracht der deutschen Geschichte – als Anti … ähem … Israelhasser titulieren lassen?

Was kommt eigentlich heraus, wenn man die israelische Politik einfach nur als die israelische Politik betrachtet? Wenn man einen Blick auf das wirft, was Israel praktiziert? Kann, muss man dann zum Schluss kommen, dass Israel sich – wie die oben angesprochenen Jusos das unterstellen – einfach nur verteidigt? Dass Israel angegriffen wird und keine andere Wahl hat als sich massiv und deutlich zu verteidigen? Oder könnte man womöglich auch auf den Gedanken kommen, dass die Rolle Israels durchaus kontrovers gesehen und diskutiert werden kann?
Was wäre daran falsch? Und – noch wichtiger – was wäre daran antisemitisch? Darf man zwischen der israelischen Regierung und den Menschen, die in Israel leben, unterscheiden? Oder ist man dann schon Antisemit?

Ich will an dieser Stelle die Politik Israels gar nicht bewerten, schon deshalb nicht, weil man sie von zahlreichen Blickwinkeln aus betrachten kann und betrachten sollte. Ich frage mich nur, wie jede kritische Äußerung in Richtung einer Regierung, die alles andere als harmlos ist und ihre Interessen ebenso gradlinig verfolgt wie andere Länder und deren Regierungen auch, nahezu immer darin gipfelt, sich Antisemitismus vorwerfen lassen zu müssen. Das ergibt keinen Sinn, es sei denn, man will jede Aktion der Israelis damit rechtfertigen, dass es sich dabei eben um Israel handelt. Das ist absurd und lässt jeden Diskurs im Keim ersticken.
Wer jede Kritik an der Politik der israelischen Regierung in die Schublade Antisemitismus oder Israelhasser steckt, kann nicht erwarten, in der politischen Debatte ernstgenommen zu werden. Und er kann auch nicht wirklich an einer zielführenden Diskussion interessiert sein. Und wer – wir kommen, wohlgemerkt beispielhaft, denn sie sind ja nicht alleine, auf die oben genannten Jusos zurück – wirklich der Meinung ist, dass Jeremy Corbyn ein Antisemit sei, der hat entweder zahlreiche Schüsse nicht gehört. Oder will sie nicht hören, weil sie sein Weltbild stören. Oder aber er will in diesem Fall Corbyn gezielt diskreditieren.

Nun zum Thema Verschwörungstheoretiker:

Im Grunde dachte ich schon vor ein paar Jahren, dass sich das langsam mal ausgelutscht hat, dass niemand mehr ernsthaft einem anderen vorwerfen kann, ein – kruder! – Verschwörungstheoretiker zu sein, ohne sich leicht lächerlich zu fühlen. Denn, meine Güte, es gab und gibt Verschwörungen, umgekehrt wird also ein Schuh draus: Wer das wirklich leugnet, ist ein Realitätsverweigerer, also genau das, was er vermeintlichen Verschwörungstheoretikern vorwirft. Wie albern ist das denn!

Klar, wir können jetzt über Chemtrails sprechen, oder Reptiloiden und andere Phänomene, die dem Image derer, die sich seriös mit Verschwörungen befassen, nicht gerade dienlich sind. Wir könnten auch über die Ursprünge und Bedeutungen von Verschwörungen sprechen, besser noch: über die Ambitionen, die mit der Brandmarkung von Menschen als Verschwörungstheoretiker zusammenhängen (das werden wir übrigens beim Podcast „mehrwutstropfen“ demnächst auch ausführlich tun). Aber hier soll es um etwas anderes gehen. Um das Ersticken jeglichen kritischen Arguments durch den Vorwurf: Ach, Sie sind doch ein Verschwörungstheoretiker!

Ja, ja, Verschwörungstheoretiker, Querfrontler, Antisemiten und was nicht noch alles. Ach ja, Aluhut-Träger, ganz wichtig und wissenschaftlich belegt. Kommt dieses rausgerotzte „Argument“ auf den Tisch, ist jede Auseinandersetzung beendet, bevor sie begonnen hat. Das gilt natürlich nicht nur für Kritik an der israelischen Politik, der Totschläger wird verwendet, wann immer es passt, und sei es, um in eine geplante Preisverleihung einzugreifen, um diese zu verhindern: Verschwörungstheoretiker! Wunderbar, das reicht, wir können an dieser Stelle jede weitere Diskussion beenden.

Aber Kritik ist nötig, auch unbequeme Kritik. Ich kritisiere auch die amerikanische Politik, die Einmischung in die Politik, ich kritisiere nicht nur Trump, sondern die USA der letzten Jahrzehnte, die für Zerstörung, Krieg, Armut und Tod gesorgt haben, mehr als jedes andere Land auf der Welt, daran ändern auch coole Blockbuster und die Rocky Mountains nichts. Bin ich deswegen ein Anti-Amerikaner? Ich seh‘ das nicht so, denn – meine Güte, dass man das überhaupt erwähnen muss! – ich hasse doch nicht die Amerikaner! Ich verabscheue den Hass und die Gier, die die amerikanische Politik bestimmen. Darf ich das nicht mit jedem anderen Land, wenn ich es so empfinde, auch machen? Inklusive Israel? Und – ganz wichtige Frage – wenn nein, warum nicht?
Könnte mir das mal bitte jemand erklären?  [InfoBox]

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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