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Agenda 2025 – jetzt!

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Die Agenda 2010 ist aus linker Perspektive gescheitert. Dabei war der Ansatz, einen Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten und Linke zu finden, nicht verkehrt. Ganz im Gegenteil. Dieser Aufgabe muss sich Europas Linke nun dringend stellen.

New Labour, das als Schröder-Blair-Papier – das im Deutschen eigentlich »Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten« hieß – über den Ärmelkanal kam, sollte als dritter Weg – so dann der englische Titel des Papiers – eine Gratwanderung zwischen Finanzkapitalismus und linker Perspektive bieten. Inhaltlich sind die Vorstellungen auf ganzer Linie gescheitert. Der dritte Weg war ein Holzpfad, weil er die Angebotsökonomie zur Alternativlosigkeit erklärt hat und weil man die Lebensrealität der eigenen Klientel und Wählerschaft aus den Augen verlor. Kurz gesagt, ein linkes Konzept, das sich vom eigenen sozialen Milieu entfremdet und Wirtschaftspolitik von der Verteilungsfrage entkoppelt hat, ist eben genau das nur noch sehr bedingt: Ein linkes Konzept. Die intellektuellen Hilfsinstallationen, die im Rahmen jener Konzeption in den Köpfen verankert wurden, das negative Menschen- und Gesellschaftsbild etwa, die schwarze Pädagogik oder aber die regelrechte Abkehr von der Geltung der Aufklärung, sprechen eine deutliche Sprache: Hier ist ein linker Weg in seinen ideellen (und auch materiellen) Bankrott gelaufen.

Eine einzige Sache aber, die als Agenda 2010 ins Land kam, die war genau richtig. Sie wurde eben nur wie beschrieben falsch ausgeführt. Gemeint ist, dass man nämlich überhaupt in Aussicht stellte, eine linke Konzeption in die neue Zeit zu übertragen.

Dass man also überhaupt einen Weg nach vorne suchte, dass man sich dieser historischen Aufgabe stellen wollte: Das war ein richtiger Schritt. Der nächste Schritt aber, den platzierte man dann jedoch schon im Morast. Grundsätzlich war es schon richtig, jedenfalls aus linker Perspektive, sich eine neue Agenda zurechtzulegen. Denn es hat sich zu viel verändert in den letzten zwei, drei Jahrzehnten. Die gesamte europäische Linke hat das vielleicht nicht verschlafen, aber sie hat auch nicht adäquat darauf reagiert oder aber, wie eben im Falle des Schulterschlusses zwischen deutschem Kanzler und britischem Premier, sie hat auf eine völlig falsche, weil um fast alle Werte beraubte, Karte gesetzt.

Das Subjekt des innergesellschaftlichen Umsturzes, der Arbeiter als Basiseinheit des Proletariats, ist in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger verschwunden. Es gibt ihn natürlich noch – nicht mehr ganz so häufig zwar, und falls doch, dann ist er eben nicht grundsätzlich der verarmte, im Fließbandmoloch darbende Genosse, der dreckverschmiert von seiner Schicht kommt. Mit einer traditionellen Klassenkampfrhetorik kommt man bei den neuen Werktätigen nicht weit. Sie greift ihre Lebensverhältnisse nicht so auf, dass sie sich darin erkennen können. Gewerkschaftliche Anklänge sind in diesem Milieu Folklore, in Phasen, in denen sie in ihren Betrieben Nöte ausstehen. Bei Verlagerungen von Arbeitsplätzen ins Ausland etwa, da scheint die Rhetorik aus linker Tradition kurzzeitig akzeptabel und nachvollziehbar zu sein. An normalen Werktagen ist sie allerdings ein Fremdkörper.

Überhaupt hat sich die (Arbeits-)Welt massiv beschleunigt. Mit marxistisch inspirierten Lösungsansätzen kommt man im Stadium der hiesigen Beschleunigungsökonomie nicht sonderlich weit. Zwangsläufig steckt man im 19. Jahrhundert fest, als Eisenbahnfahrten die Krone der Geschwindigkeit darstellten. Nationale Ökonomien sind aufgeweicht und ins Globale sublimiert, gehen darin auf oder darin unter – je nachdem. Die Linke – ich gestehe ein, dass ich den Begriff hier verallgemeinernd und ohne genauere Definition in die Runde werfe – hat auf die Globalisierung weitestgehend zweierlei Haltungen gefunden. Entweder hat sie sich dem Prozess so unterworfen, dass sie sich dem Druck des globalen Wettbewerbes ohne mildernde Gestaltungsansprüche untergeordnet hat. Da käme wieder die Agenda 2010 ins Spiel. Oder aber sie hat sich in strikter Ablehnung verfahren.

Zwischen totaler Affirmation und Negation einen linken Weg zu finden, so wie es der »Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten« seinerzeit wenigstens im Titel versprach, das blieb aus. Die europäische Linke hat sich tatsächlich in den Jahren neoliberaler Deutungshoheit – die noch nicht vorbei sind – zurückgezogen in eine Mentalität, die man simplifizierend als Negation zum eingeschlagenen Wirtschaftskurs deuten könnte. Das ist zwar auch bitter nötig, aber gleichzeitig auch wenig produktiv im Hinblick auf die Gestaltung möglicher gesellschaftlicher Alternativkonzepte. Die dürften aber dann, falls man sie doch mal austariert – und manchmal kommen aus der Linken noch utopische Klänge -, keine regressiven Modelle sein, also den Menschen nicht mit einem großen Verlust an Lebensqualität drohen, wie das zum Beispiel grüne Utopien zuweilen schon taten.

In puncto Europa hat sich über viele Jahre eine ganz ähnliche Perspektivlosigkeit entwickelt. Die linke Kritik an der EU war nie falsch. Sie war und ist eine Wirtschaftsunion, die auf tönernen Füßen steht. Heute mehr denn je. Mit der Realisierung dessen, wovor man jahrelang gewarnt hat, lehnt sich die europäische Linke jetzt zufrieden zurück und erklärt: Wir haben es ja gesagt! Dabei klingen manche linke Töne zu Europa frappierend so, wie die negativen Vorstellungen der erstarkenden Rechten. Man hat es versäumt, eine Vision eines vereinten Europa zu entwickeln oder zu konstruieren, für das es sich lohnt zu streiten. Was übrigens nicht heißt, dass linke Europapolitiker aus ganz Europa nicht immer wieder ihre Stimme erheben, um den Weg zu weisen. Aber aus Einzelstimmen lässt sich beim besten Willen keine linke Aufbruchsstimmung, keine Agenda für Europa filtern.

Das Thema ist so komplex, dass es an dieser Stelle nur gelingt, einige Schwerpunkte anzuschneiden. Faktisch ist es jedoch so, dass die europäische Linke sind im Verlauf der letzten Jahre besonders als negierende Kraft etabliert hat. Diese Haltung ist durchaus auf programmatische Veraltungen zurückzuführen, auch auf Orientierungslosigkeiten, die zwangsläufig entstehen, wenn man sich mit den Entwicklungen nicht modernisiert und selbst peu a peu veraltet. Insofern war es richtig, dass man Anfang des Jahrtausends eine neue Agenda ins Spiel brachte. Es war richtig als Maßnahme. Nicht als Resultat. Eine Agenda 2025 wäre jetzt für die europäische Linke unbedingt notwendig.

Die muss umsetzbare Konzepte finden, um zum Beispiel im globalisierten Wettbewerb den Sozialstaat zu erhalten, ihn weiter zu stärken und ihn im Europäischen aufgehen zu lassen. Konstruktiv nicht destruktiv. Es werden ferner Ansätze benötigt, die komplexe Lebensrealität Werktätiger so zu erfassen, dass man nicht klingt wie frühsozialistische Revoluzzer, die tatsächlich in der Vereinfachung der Dinge davon ausgehen, dass Arbeiter nichts als ihre Ketten zu verlieren haben. Wenn es so einfach wäre, zöge das Repertoire von dunnemals noch. Tut es aber nicht. Und ganz wesentlich: Die Linke muss Toleranzthemen unbedingt als zentralen Bestandteil der sozialen Frage begreifen. Tut sie es weiterhin nicht, isoliert sie Emanzipationsprogramme von der Verteilungsfrage, unterschlägt sie jenen Materialismus, der notwendig ist, um für die Zukunft eine Alternative zu sein.

Jene drei Punkte als grobe Orientierung. Im Einzelfall wird man über den Umgang mit vielen kleineren Aspekten streiten müssen. Ohne Ideologie und ohne die rote Linie aus den Augen zu verlieren, die auf keinen Fall überschritten werden darf aus linker Perspektive: Die tatsächlichen Lebensumstände der Menschen, die nicht einem gerade opportunen Elitarismus geopfert werden dürfen, wie das dann bei der Agenda 2010 der Fall war.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

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