6.9 C
Hamburg

Neues vom Jobwunder

Published:

Eigentlich schade, dass der Italiener um die Ecke nicht liefert, oder? Tut er aber nun doch. Nicht er selbst, er hat den Service outgesourct. Ein Fahrradkurier macht das jetzt für ihn. Auch diese Radler sind Teil des Jobwunders und des vermeintlichen Stellenüberflusses in Deutschland.

An fast jedem Abend trifft sich ein Pulk von Radfahrern in der Frankfurter Taunusanlage. Alle habe sie einen großen Kasten, eine Kühl- bzw. Wärmebox mit einem modernen Start-Up-Namen auf dem Gepäckständer. Und da warten sie dann. Auf einen Anruf, eine aufpoppende App, auf eine Buchung. Denn in der benachbarten Kaiser-, Münchner oder Taunusstraße gibt es eine Unmenge von Lokalen, die sich keinen Fahrdienst leisten, ihre Speisen aber dennoch gerne zur Lieferung an die Haustüre anbieten möchten. Moderne Unternehmen haben einen solchen Fahrdienst entwickelt, der als outgesourcte Dienstleistung den Restaurants gegen Gebühr zur Verfügung stehen soll. Eben jenes Peloton an Radfahrern. Das bietet seine Dienste entweder selbstständig oder geringfügig beschäftigt an.

Der Lohn setzt sich aus einem Grund- und einem Zusatzlohn bei erfolgter Auslieferung zusammen. Ersterer liegt hierbei unter dem gesetzlichen Mindestlohn, jedenfalls dann, wenn das Arbeitsverhältnis auf selbstständiger Basis erfolgt. Arbeitsmaterial muss man selber mitbringen. Ob Handy oder Fahrrad: Gestellt wird nichts. Auch eine Unfallversicherung wird nicht abgeschlossen. Manches dieser Unternehmen bietet auch firmeneigene Fahrräder an. Die Benutzung wird dann jedoch in Rechnung gestellt.

Der Job selbst gestaltet sich, wie jede Anstellung als Lieferant, als regelrechte Knochenarbeit. Treppensteigen, Speisen schleppen, die Uhr nicht aus den Augen verlieren. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Lieferanten mit dem Fahrrad durch Großstadtstraßen schlängeln müssen, die für ihre Fahrradfahrerfreundlichkeit eher nicht bekannt sind. Eine Fahrt quer durch die Stadt ist so nicht nur ein ewiger Kampf gegen die Uhr, sondern auch eine kalkulierte Gefahr für Leib und Leben.

Neues vom Jobwunder also. Szenen aus jener Geschichte, die erzählt: Deutschland gehe es gut. So gut wie nie. Was die schöne neue App-basierte Welt hier für Arbeitsuchende bereithält, das sind moderne Arbeitsgelegenheiten, die eine maximale Flexibilität und Arbeitsbereitschaft zuzüglich Einsatz privater Betriebsmittelressourcen vorschreibt, um minimales Einkommen zu generieren. So sieht es in vielen Bereichen des modernen Arbeitsmarktes aus. Beim Peloton der Fahrradlieferanten kulminieren all die Eigenschaften, die den Zumutbarkeitslimbo auf dem Arbeitsmarkt ausmachen. Hier wird Eigenverantwortung und Flexibilisierung so augenscheinlich zum Einstellungskriterium, dass diese Stellen buchstäblich als Paradebeispiel der prekären neuen Arbeitswelt herhalten können.

Eine Regulierung solcher Arbeitsplatzmodelle, die Angestellte nicht als solche sehen, sondern als Reservoire auf das man unverbindlich zurückgreifen kann, wenn man schnell einen Dienstleistungs- oder Arbeitsauftrag zu verteilen hat, wird von der herrschenden Politik aber leider kaum zu erwarten sein. Seit Jahrzehnten wird prekäre Beschäftigung in diesem Land als Rettung vor dem wirtschaftlichen Niedergang gefördert und jeder Eingriff zur Besserstellung prekär Beschäftigter auf die lange Bank geschoben.

Was sich da per App als Bereitschaftsdienst jeden Abend in Parks oder Straßenecken versammelt, um auf Aufträge zu warten, muss man als die nächste Stufe der Prekarisierung ansiedeln. Festangestellte Leiharbeitnehmer: Das ist so Neunziger. Das Mobiltelefon als Klingel für den Bediensteten zu benutzen, das ist die nächste Form der Modernisierung des Arbeitsmarktes. Man kann so tun, als sei das eine Entwicklung, die zwangsläufig ist. Oder aber man bildet sich ein, dass Politik sehr wohl Entwicklungen bestimmen könnte, wenn sie denn die Courage dazu hätte. Menschliche Arbeitskraft jedoch in einen App-basierten Bereitschaftsmodus zu versetzen: Herzlich willkommen im digitalisierten Viktorianismus.

Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente
Roberto J. De Lapuente ist irgendwo Arbeitnehmer und zudem freier Publizist. Er betrieb von 2008 bis 2016 den Blog ad sinistram. Seinen ND-Blog Der Heppenheimer Hiob gab es von Mitte 2013 bis Ende 2020. Sein Buch »Rechts gewinnt, weil links versagt« erschien im Februar 2017 im Westend Verlag. In den Jahren zuvor verwirklichte er zwei kleinere Buchprojekte (»Unzugehörig« und »Auf die faule Haut«) beim Renneritz Verlag.

Related articles

spot_img

Recent articles

spot_img