Millionen geringfügige Beschäftigte seien vom Mindestlohn ausgeschlossen. Das kann stimmen – muss es aber nicht. Minijobber berichten zuweilen von einer anderen Taktik. Aber es fehlt wie überall in der Personalmangelwirtschaft an Zollfahndern.
Die Betriebe haben für fast die Hälfte der Minijobber keinen Mindestlohn übrig. So behauptet es die Hans-Böckler-Stiftung. Hierzu haben Torald Pusch und Hartmut Seifert, Forscher des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), zwei repräsentative Quellen ausgewertet: Umfragen des Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) und des Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS). Beide Panels hatten im Laufe des Jahres 2015 tausende Personen zu ihrem Einkommen und ihre Arbeitszeit befragt. Die WSI-Forscher konzentrierten sich dabei auf Menschen, für die eine geringfügige Beschäftigung ihre Haupterwerbsquelle darstellt.
Einen flächendeckenden Mindestlohn gäbe es demnach nicht. Die Zahlen belegen, dass Betriebe die Löhne nicht erhöht hätten. Jeder fünfte Minijobber würde sogar weniger als 5,50 Euro in der Stunde erhalten.
Der Schluss ist naheliegend, kann aber auch täuschen. Aus Gesprächen mit Minijobbern ist mir bekannt, dass viele Unternehmen durchaus auch dieser Gruppe den Mindestlohn bezahlen. Da aber die Einführung des Mindestlohnes für die Unternehmen bedeutet hätte, die monatliche Arbeitszeit bei gleichem Lohnniveau (also höchstens 450 Euro plus Nebenkosten) teils drastisch zu senken, ist man zu einem anderen Modell übergegangen: Man bezahlt den Mindestlohn und vergütet das, was darüber hinausgeht, auf unkonventionelle Weise: Unter der Hand.
Von einer Angestellten aus dem Gastronomiesektor habe ich erfahren, dass sie früher 60 Stunden im Monat arbeiten musste, um auf ihre 450 Euro zu kommen. Bei einen Stundenlohn von 7,50 Euro ging die Rechnung glatt auf. Mit Einführung des Mindestlohnes hätte der Arbeitgeber die monatliche Arbeitszeit um etwa acht Stunden reduzieren müssen. Das tat er natürlich nicht, denn zu verrichtende Arbeit gab es genug. Er bezahlte ihr und ihren Kollegen den Mindestlohn – nicht gerne, er murrte selbstverständlich dabei, wollte aber die Leute nicht rebellisch bei der Arbeit haben. Den Rest bezahlt er schwarz aus.
Faktisch wurde vorher schon Mehrarbeit schwarz ausbezahlt. Darauf waren schon vor dem Mindestlohn geringfügige Beschäftigungsverhältnisse ausgelegt. Billiger und flexibler konnte man Arbeit gar nicht verrichten lassen. Für den Arbeitgeber ist das eine grundsätzliche Gewinnsituation; für die Arbeitnehmer hingegen nur eine kurzfristige Lösung ihrer Sorgen. Langfristig arbeiteten sie auf sozialversicherungspflichtigen Niveau ohne sich etwaige Ansprüche zu verschaffen. Mit dem Mindestlohn hat sich diese Misere nur noch vergrößert. Heute wandert mehr Geld in die Schattenwirtschaft als vorher. Aber für die Arbeitgeber rentiert es sich weiterhin. Und die Karteileichen, also angebliche Angestellte auf geringfügiger Basis, die zwar eingetragen und gemeldet sind, die faktisch aber nie oder nur selten am Arbeitsplatz erscheinen, um deren monatlichen Freibetrag von 450 Euro auf die Mehrarbeiter im Betrieb zu verteilen, dürften sich in den Mindestlohnjahren vergrößert haben. Geringfügige Arbeitsverhältnisse, für die pauschalisiert Lohnsteuer abgeführt werden, sind ohnehin für das Finanzamt nicht relevant und müssen in der Steuererklärung nicht mal erwähnt werden – so blendet man etwaige Sümpfe einfach aus.
Dass dem so ist, hat mit der Sparpolitik zu tun, die den neoliberalen Kurs der Regierung auf Schritt und Tritt begleitet. Fehlende Zollfahnder und Mindestlohnkontrolleure ermöglichen solche krummen Touren. Die Angst kontrolliert zu werden ist äußerst gering. Und selbst wenn mal jemand kommt: Da ist wegen des Personalnotstandes Zeitdruck da, sodass eine penible Kontrolle eigentlich ausgeschlossen ist und man sich bei oberflächlicher Betrachtung, bei der sich zunächst kein Verdachtsmoment ergibt, auch gleich darüber hinweggegangen wird. Am Mindestlohn waren einige Stellschrauben falsch gesetzt. Angefangen bei der zu moderaten Höhe bis hin zu etwaigen Ausnahmeregelungen. Ein anderer Punkt kommt bei der Kritik meistens zu kurz: Parallel dazu hätte man die Kontrollmechanismen und das dazugehörige Personal verstärken müssen. Standards zu setzen ohne Standardüberwachung zu garantieren: Das ist keine Regulierung, sondern die sukzessive Selbstaufgabe des politischen Gestaltungsauftrags.
Natürlich stützen sich die WSI-Forscher auf Aussagen von Betroffenen. Es ist aber fraglich, ob die publik gemacht hätten, dass sie zuweilen Schwarzarbeit verrichten. Dieses Verhältnis zwischen Patron und Angestellten im »geringfügigen Milieu« ist oft eine verschworene Gesellschaft. Beide Seiten haben ein reges Interesse an Verschwiegenheit. Auch die Ausgebeuteten. Meine Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt und die Berichte von Betroffenen dokumentieren aber, dass der Mindestlohn zwar bezahlt wird, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Gesellschaft letztlich draufzahlt: So wie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse heute organisiert und von der Kontrolle abgeschnitten sind, kann man sie getrost als Einstieg in die Schattenwirtschaft bezeichnen.