Stéphane Hessels Imperativ kam zur rechten Zeit. Er meinte aber sicher etwas völlig anderes als das, was wir seit geraumer Zeit zu ertragen haben. Wütende Empörung ersetzt nicht den Verstand. Sie sollte aus ihm abgeleitet werden.
Als der ehemalige Résistance-Kämpfer kurz vor seinem Tod seine kleine Streitschrift unter die Leute brachte, geschah das in einem Moment in der Geschichte der Industriestaaten, in dem sich ganz offenbar die Resignation breitmachte. Es gab so etwas wie einen oktroyierten Konsens darüber, wonach Wirtschaftsinteressen Politik bestimmen sollten – und trotzdem: Die Menschen beschwerten sich herzlich selten über diesen Umstand. Zwar flackerte hier und da ein bisschen Protest auf (Stuttgart 21, Occupy), aber alles in allem wirkte es so, als habe man sich mit dem Primat der Wirtschaft halbwegs abgefunden. Hessel formulierte einen Weckruf: Empört euch! Und er traf damit den Zeitgeist, wurde auf seine alten Tage zum Star – selbst der Mainstream konnte nicht umhin, das Büchlein zu ignorieren. Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass sich das sein Hessel massiv verändert hat – jetzt empört man sich. Aber das zuweilen über Gebühr. Und mit Wut und nicht mit Zorn. Regt euch doch ab und zu mal ab! Oder besser: Es braucht Empörungskompetenz.
Besonders die virtuelle Welt ist eine Sphäre, in der das Empörende in Dauerschleife abgespult wird. An Kleinigkeiten merkt man zuweilen, wie beliebig und unausgegoren die Empörungsmaschinerie ihren Rhythmus wummert. Ob nun bei Kunstinstallationen in der Dresdner Innenstadt, Glockenspielmelodien oder aber weil irgendwer irgendwo gelesen hat, dass der Europäische Gerichtshof der Ansicht sei, dass LKW-Fahrer ihre Langruhezeiten nicht im Lastwagen verbringen dürfen: Die Indignation als Lebensgefühl erlebt einen Boom.
Der eben genannte Fall begegnete mir vor einigen Tagen. Jemand postete einen Link, in dem davon berichtet wurde. Darauf rollte man den indignativen Pranger herein und man unterstellte den Richtern eine weltfremde Sicht, man wolle nur alles durchregulieren und mache den armen Lastwagenfahrern das Leben zur Hölle, denn jetzt müssten sie ihre täglichen Ruhepausen beim Zelten verbringen. Ein kurzer Einwand, es würde um die langen Ruhezeiten gehen, um die Wochenenden gewissermaßen (auch wenn die nicht immer auf samstags und sonntags fielen), blieb ungehört oder gebar noch mehr kalte Wut. So weltfremd ist es aber doch gar nicht, wenn Richter beschließen, dass man Lastwagenfahrern nicht zumuten könne, ihre freien Tage irgendwo auf Europas Rastplätzen verstreichen zu lassen. Das hat auch mit unterlassener Fürsorgepflicht der Arbeitgeber zu tun. Aber ganz gleichgültig: Man war bass empört. Und damit blind und taub – aber so leider ganz und gar nicht stumm.
Es ist heute mitnichten so, dass wir uns nicht mehr empören würden und wir einen Weckruf wie jenen Hessels benötigten. Es wird sich so rege empört wie nie zuvor. Netzwerke sei Dank. Nur empört man sich jetzt eben über Nichtigkeiten oder über völlig aus dem Zusammenhang gerissene Newsfetzen, in die man hineininterpretiert, was man hineinzuinterpretieren vermutet hat. Es ist eben so, wie Georg Schramm es mehrfach wiederholt hat: Die Wut ist nicht der Zorn. Letzterer spielt den »dienstbaren Geist der Vernunft« – bei der Wut als Spezialität des Wutbürgers aber, da handle es sich lediglich um die »unbeherrschte Schwester« des Zorns.
Man versucht dieser Tage den Zeitgeist mit Label zu etikettieren. Man spricht von der Postdemokratie – oder von der postfaktischen Gesellschaft. Das sind derzeit die beliebtesten Titel für unsere Zeit. Man könnte auch sagen: Wir leben in den Tagen der unbeherrschten Schwester, in der die Wut als Empörung in jede Ecke und in jede Fuge wabert, die nicht gut genug verkittet ist. Man ist ständig empört, fährt schnell hoch, entrüstet sich wild und hakt die ganze Sache relativ schnell wieder ab, denn die nächste Empörungssau steht schon vor dem Dorf und bietet um Durchquerung. Relaxen ist ein Wort, das in den frühen Neunzigern aus dem Englischen eingedeutscht wurde; plötzlich hörte man es damals überall. Man fragte sich: Sang davon nicht mal jener Frankie, der nach Hollywood gehen wollte? Von da ab war das Relaxen ein Fall für den Duden. Davon ist heute nichts mehr übrig. Also das Wort gibt es freilich schon noch, aber der Zeitgeist ist viel zu aufgeregt, als dass er heute Entspannungsbegriffe aus anderen Sprachen ins Deutsche holen würde. Heute deutscht man eher das Gegenteil davon ein; siehe, höre, fühle: Hatespeech.
Vielleicht muss man es so sehen: Es hat sich eine Empröungsparallelgesellschaft formiert, weil der berechtigte Zorn auf den sozio-ökonomischen Kurs der Politik nie Gehör erhielt. Nun zürnen die Leute immer weniger, empören sich aber surrogativ dafür umso mehr. Und ehe man sich versieht, wittert man hinter jeder Meldung, auch hinter scheinbar zunächst völlig unverdächtigen Nachrichten, einen neuen Indignationsaufhänger. Man verliert so gesehen seine Kompetenz in der Bewertung der Gegenstände. Wo der Zorn selektiert, macht die blanke Wut beliebig. Insofern ist der Wutbürger, ob nun auf der Straße kastanienwerfend oder im Net shitstormend, mit den Augen der Eliten betrachtet, immer noch die am wenigsten gefährliche Variante des Bürgers. Zornbürger müssten einem schon eher Sorgen machen. Die könnten dummerweise kompetenter an die Sache herangehen, könnten gar Wichtiges von Unwichtigem trennen. Und von hier ab brennt der Laden. Die Empörungsbürger sind hingegen nicht die hellsten Kerzen im Leuchter.
Wie also die Empörungskompetenz stärken? Innerhalb Facebooks? Keine Chance. Die Aufklärung hat just an der Stelle ausgedient, als man dieses Netzwerk als Informationsportal und Pranger zugleich den Menschen ans Herz legte. Kompetenz kommt von competere, was zusammentreffen meint. Und genau das geschieht bei Facebook ja nicht: Man trifft mit niemanden zusammen. Es fühlt sich ja nicht mal so an. Es gibt wohl viele Gegenüber, man weiß ja, dass dahinter Menschen sitzen. Aber ohne ein menschliches Antlitz tut sich der Mensch zuweilen noch leichter mit seiner Verachtung. Die asozialen Netzwerke sind nicht dafür geeignet, um sich in einer solchen Kompetenz schulen zu lassen. Überhaupt ginge es zunächst mal um Sozialverhalten und Empathie. Ohne diese Skills wird es mit etwaigen Kompetenzen schwierig.
Der Untergang des Abendlandes, so glauben viele Humanisten und Anhänger der Aufklärung, sei kein Projekt von Flüchtlingen, sondern das Erzeugnis von Technologien, auch von Kommunikationsmitteln, die wir nicht zu beherrschen wüssten. In ihren verlören wir den sozialen Anschluss und nebenher auch noch Knigge und Orthographie. Diese Befürchtungen sind gar nicht an den Haaren herbeigezogen. Wer die Netzwerke kennt, weiß vom darin brabbelnden Pidgin und seinen unmöglichen Umgangsformen. Beleidigungen sind dort das »Gott zum Gruße« des wütenden Mannes und seiner Frau. Andersherum geht das natürlich auch: … Frau und ihres Mann – das muss man anmerken, sonst empört sich gleich wieder jemand voller Wut. Dass aber darüber hinaus Kompetenzen verloren gehen, eben auch ein Gefühl dafür, wo Zorn notwendig ist und wo sich Empörung aus Mangel an öffentlichen Interesse lohnt, bestärkt die Kritik an den neuen Kommunikationstechnologien nur noch. Und darüber sollte man sich auch mal wütend empören.