Warum Deutschland kein Land der Hoffnungen und Sehnsüchte ist
Sicher erinnern Sie sich an den letzten Politiker, die letzte Parlamentarierin, die vollmundig und mitfühlend über den Kampf gegen die Fluchtursachen gesprochen haben. Es scheint das Gebot der Stunde zu sein, diesen auf den Grund zu gehen und sie zu beheben, um ein europa- und weltweit besseres Leben zu erreichen. So klingt es zumindest in den Sonntagsansprachen, die wir an jedem Wochentag hören.
Erinnern Sie sich auch daran, dass Politiker im nächsten Teil ihrer Ausführungen tatsächlich über diese Ursachen von Flucht gesprochen haben? Das dürfte schon schwieriger werden, denn Sätze, die mit dem Begriff „Fluchtursache“ beginnen, (ver)enden meist als Halbsätze oder führen in die Irre. Es ist nichts Neues, wenn man feststellt, dass wir nicht die Fluchtursachen, sondern die Flüchtlinge bekämpfen. Doch wie bigott dabei argumentiert wird, geht in der allgemeinen Berichterstattung meist unter bzw. wird verschwiegen.
Merkel spricht Klartext – defensiv verpackte Offensive
Wenn wir über Fluchtursachen reden, dürfen wir diese nicht mit den Symptomen verwechseln, eigentlich keine besondere Erkenntnis. Doch genau dies geschieht jeden Tag. Wenn wir über die Sicherung von Grenzen sprechen, über die Jagd auf Schlepperbanden, über Gesetzesverschärfungen für geflüchtete Menschen, die in Deutschland Straftaten begehen, dann sprechen wir über die Auswirkungen, die Symptome einer aggressiven Politik, und zwar sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Es ist bezeichnend, dass Angela Merkel im EU-Parlament davon sprach, „stärker aus der Krise hervorzugehen, als wir in sie hineingegangen sind.“ Was impliziert, dass wir, die Menschen in den reichen Ländern, die Opfer dieser von der Kanzlerin beschriebenen Krise sind.
Das ist zwar schon zynisch, aber Merkel legt noch eine Schippe drauf: „Dann werden wir es schaffen, auch global unsere Werte und Interessen überzeugend zu vertreten.“ Dieser Satz Merkels am Rande macht die Arroganz und den Willen deutlich, uns weiter auszubreiten, weiterhin unsere wirtschaftlichen Interessen in den Mittelpunkt unseres Handelns zu stellen und das Leid in den ausgebeuteten Ländern zu verschärfen. Nicht einmal das Räuspern eines Parlamentsmitgliedes war zu vernehmen, als Merkel diese aggressive Politik als selbstverständlich hinstellte.
Auch die folgende Passage führte zu keinerlei Reaktionen: „Heute ist Europa ein Raum, auf den viele Menschen aus aller Welt ihre Hoffnungen und Sehnsüchte richten. Ein Raum, der Menschen träumen lässt ( … ) Wir müssen verantwortungsbewusst mit Europas Anziehungskraft umgehen.“
Diese Schilderung ist unverschämt, aber sie ist darüber hinaus verschleiernd und untergräbt die Fähigkeit bzw. den Willen, sich mit den Fluchtursachen tatsächlich auseinanderzusetzen und daraus Lösungsansätze zu entwickeln. Europa wird als Ort der Träume und Sehnsüchte dargestellt. Sollte das tatsächlich stimmen, dann im wesentlichen deshalb, weil die flüchtenden Menschen in ihrer Heimat keine Perspektive mehr haben, die wirtschaftliche Not als Folge des wirtschaftlichen Wohlstands in Europa die Grundlagen für ein Leben in der Heimat zerstört. Diesen Umstand blendet Merkel in ihrer Rhetorik vollständig aus, ja, sie kehrt die Sachlage um und tut so, als flüchteten die Menschen aus einer Laune heraus zu uns, oder weil sie ein möglichst großes Stück vom „Europa-Kuchen“ abhaben wollen. So entstehen Feindbilder. Feinbilder, die Pegida und AfD mit offenen Armen aufnehmen.
Konsequent zu Ende gedacht bezeichnet Merkel die fliehenden Menschen selbst und ihre Charakterschwächen als Fluchtursache, sind sie es doch in ihren Augen, die aus lauter „Träumen und Sehnsüchten“ nach Europa kommen wollen (auch wenn die Kanzlerin es besser weiß, was die Sache jedoch nur schlimmer macht). Diese Rhetorik ist grauenvoller, als es im ersten Moment scheint, weil sie den Blick von den tatsächlichen Ursachen für Flucht und Vertreibung weg und auf die Betroffenen lenkt. Fabuliert dann noch jemand von „Wirtschaftsflüchtlingen“, die eigentlich vor gar nichts entkommen müssten, ist das Bild des „Schmarotzers“ perfekt. Und es funktioniert. Jeden Tag aufs Neue.
Flucht vor den Wirtschaftsinteressen Europas
Der in einem Report-Beitrag vorgestellte Fischer aus dem Senegal steht repräsentativ für die Prinzip der wirtschaftlichen Ausbeutung ohne den Anflug eines schlechten Gewissens. Oder ohne eines Bewusstseins dafür, je nachdem, wie man es betrachtet. Er ist der „Wirtschaftsflüchtling“, der hier in einem solch schlechten Ruf steht. Er ist der, dem unterstellt wird, er wolle unsere Sozialsysteme egoistisch ausnutzen, sich bereichern, um dann mit einem „Haufen Kohle“ entweder in sein Land zurückzukehren oder sich hierzulande zu bereichern.
Man muss sich jedoch klarmachen, dass es nicht die einheimische Wirtschaft war, die den Fischer vertrieben und ins Ungewisse hat gehen lassen. Es ist vielmehr die Tatsache, dass er seiner Existenzgrundlage beraubt wurde – durch Europa, durch die weiter oben geschilderten „Werte und Interessen“, ausgesprochen von der „Flüchtlings-Freundin“ Angela Merkel. Wenn einem Fischer aus dem Senegal alles genommen wird, was er zum Leben, um Überleben braucht, dann hat er keine Wahl, er muss nach Alternativen suchen. Man könnte, ja, man muss es wohl so formulieren: Jemand, der flüchtet, läuft vor etwas weg, muss sich retten vor Verfolgern, die ihm auf den Fersen sind. In diesem Fall sind es die europäischen Konzerne, die sich billig die Fangrechte erkauft haben, um Milliardengewinne einzufahren. Was das für die einheimische Wirtschaft bedeutet, für den Fischfang, für die Fischer, die damit ihre Existenz bestreiten, ist irrelevant. Und wird – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch medial ausgeblendet, wenn über „Wirtschaftsflüchtlinge“ berichtet wird.
Die Kanzlerin versteht es zwar gut, sich als „Retterin“ Europas und als Kämpferin für den Zusammenhalt zu präsentieren. Aber letztlich macht sie nichts, um die Situationen in den Ländern, aus denen die meisten Geflüchteten hervorgehen, in irgendeiner Weise zu verbessern. Im Gegenteil, Merkel fordert weiter, „unsere“ Interessen weltweit durchzusetzen. Sie formuliert ein „Weiter so“ und schafft damit die Voraussetzungen für mehr Flüchtlinge und zunehmende Probleme – global und national.
Verantwortlich für einen erschossenen Menschen ist der Mörder …
… nötig ist die Mordwaffe, die er nutzt. Verantwortlich für die Möglichkeit, diese Waffe zu benutzen, ist der Waffenproduzent. Verantwortlich dafür, dass der Mörder seine Waffe bekommt, ist derjenige, der ihm die Waffe anbietet, schenkt, oder verkauft, also im weitesten Sinne vertreibt, was auf sehr verschlungenen Wegen geschehen kann. Verantwortlich für den Mord sind also der Täter, der Waffenproduzent und der Waffenexporteur. Wobei die Grenzen hier fließend sind bzw. sein können und man über die Schuldverteilung sprechen kann und muss. Wenn Waffenexporteure sich entscheiden, verfeindete Staaten oder Gruppen gleichermaßen mit Waffen zu versorgen, ist die „Trefferquote“ naturgemäß höher, der Krieg dauert länger, die Gewinne steigen. Das hat nichts, aber auch gar nichts mit der Verteidigung von Werten zu tun, es dient lediglich Umsatzsteigerungen.
Man neigt heute trotzdem dazu, diesen Kreislauf gar nicht mehr anzusprechen, weil es dann meist heißt, dass so einfach ja nun auch wieder nicht sei. Dieser eher simple Zusammenhang ist kaum populär, es spielen ja angeblich so viele Faktoren eine Rolle. Arbeitsplätze, Gerechtigkeit, Demokratie, der Kampf gegen vermeintliche Diktatoren, all das wird gern argumentativ genutzt, um aus der Waffenproduktion etwas „sinnvolles“ zu machen, etwas, das eben „der guten Sache“ diene. Und wenn man nicht die Meinung vertritt, dass es eine gute Idee ist, nach einem Schlag ins Gesicht auch noch die zweite Gesichtshälfte hinzuhalten, gibt es durchaus Situationen, wo die Selbstverteidigung es erlaubt, sich gewaltsam, auch mit Waffengewalt, zur Wehr zu setzen. An diesem Punkt wird es aber kompliziert, weil die Definition von Angriff und Verteidigung sehr unterschiedlich gehandhabt wird. Und spätestens seit „9/11“, als der weltweite „Kampf gegen den Terror“ ausgerufen wurde, scheint es Angriffe aus Gründen der Aggression, der Expansion oder der Bereicherung nicht mehr zu geben. Jeder Tote ist die Folge des angeblichen Kampfes gegen den Terror oder für die Demokratie.
Doch erstens ist das nicht wahr, denn der Kampf gegen den Terror hat weder den Terror besieht noch die Anzahl der Toten reduziert. Im Gegenteil, es sind inzwischen Millionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer gefallen sind. Der Terror jedoch hat darunter nicht „gelitten“, im Gegenteil, er wächst und gedeiht weiter.
Und zweitens ist die Demokratie nicht die einzige Gesellschaftsordnung, die denkbar ist. Und aus diesem Grund ist es diabolisch, kriegerische Angriffe auf andere Länder mit der Verteidigung der Demokratie zu rechtfertigen. Eine Verteidigung übrigens, die auch dann begrifflich absurd ist, wenn es im betroffenen angegriffenen Land gar keine Demokratie gibt. Alleine die Tatsache, dass eine politische Gesellschaftsform nicht gefällt, ist nicht einmal auch nur ansatzweise ein guter Grund, über ein Land herzufallen, weder völkerrechtlich noch moralisch.
Andere Gründe als die Verteidigung werden jedoch seit vielen Jahren nicht mehr genannt. Was recht einfach erklärbar ist: Ein offener Angriff ist politisch, gesellschaftlich und medial schlecht zu verkaufen. Alleine die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ist schon jetzt in der Mehrheit dagegen, dass Deutschland sich an Kriegen beteiligt. Wie wäre das Stimmungsbild wohl, wenn offiziell auch noch aggressive Angriffe als Begründung für kriegerische Ausbreitung angeführt würden? Die Akzeptanz wäre endgültig dahin, selbst die Springer-Presse hätte Schwierigkeiten, das seinen Lesern zu verkaufen.
Faktisch geht es einerseits um die Ausbeutung von Ressourcen, die als Grund für den Krieg zu nennen sind. Und es geht um geostrategische Machtpositionen. Der Terror, der ja stetig mehr geworden ist, seit zum Kampf gegen ihn ausgerufen wurde, eher eine Begleiterscheinung, die das „Geschäft am Laufen“ hält, weitere Angriffe rechtfertigt und deshalb auch direkt oder indirekt unterstützt wird. Schon in Konflikten, die längst der Vergangenheit angehören, haben Waffenexporteure bzw. Regierungen gleich beide Konfliktparteien mit Ausrüstungen versorgt. So war sichergestellt, dass die Auseinandersetzung so schnell kein Ende fand, das lukrative Geschäftsmodell funktionierte also länger und ließ die Kassen lauter klingeln, wie schon oben angemerkt.
Ist Angriff die beste Verteidigung?
Abgesehen vom Völkerrecht, das jeden Angriff auf ein Land in nahezu allen Variationen verbietet, muss man die Frage natürlich grundsätzlich verneinen. Angriffe führen zu Reaktionen, und je aggressiver die ursprünglichen Attacken waren, desto heftiger und gewalttätiger wird die Gegenwehr ausfallen. Das nennt sich dann Terror.
Doch wir befinden uns im permanenten Angriffsmodus, auch wenn wir ihn als Verteidigung titulieren. Wenn wir täglich über die Angriffe auf unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Offenheit und Menschlichkeit lesen, dann täuscht das darüber hinweg, dass unsere eigenen Angriffe denen derer vorausgingen, die heute Anschläge verüben oder Amok laufen. Angela Merkel hat diesen Widerspruch in den oben genannten Zitaten eigentlich erschreckend klar auf den Punkt gebracht. Sie spricht von Interessen und im direkten Zusammenhang damit von Werten, die wir international vertreten müssen, meint jedoch die Durchsetzung wirtschaftspolitischer und militärischer Interessen um jeden Preis.
Aber erstens muss die Frage erlaubt sein, wie das vonstatten gehen soll. Offenbar ja in aggressiver Weise. Und zweitens – noch viel wichtiger – kann und muss man fragen, ob wir unsere Werte und Interessen denn wirklich international „vertreten“ müssen, was ja nichts anderes bedeutet, als zu missionieren, nur eben auf eine Art und Weise, die im Vergleich zu den Missionierungsversuchen der Geschichte auf einem technisch komplett anderen Niveau stattfinden und deutlich mehr Tote produzieren. Zumal der Missionierungsgedanke hinfällig ist, wenn man sich klar macht, dass es um Öl, Gas und andere Rohstoffe geht.
Es ist ein täglich formulierter Irrglaube, dass unsere Gesellschaft, wie wir sie heute erleben, auf Offenheit, Freiheit und Menschlichkeit basiert. Wir spüren das doch schon, wenn wir den „Krieg gegen den Terror“ einmal komplett ausblenden, für nur einen Moment. Was wir sehen, ist eine Gesellschaft, die auseinanderbricht, die zwischen Wohlstand und Armut immer tiefere Gräben baut, die verschont, wer es sich leisten kann oder „Leistungsträger“ ist und gnadenlos sanktioniert und verurteilt, wo die finanziellen Mittel zur Gegenwehr fehlen. Wir erleben eine höchst aggressive Gesellschaft, die den Schwachen und Bedürftigen keine Chance einräumt, die vielmehr die Verantwortung denen zuschiebt, die die schmalsten Schultern haben.
Warum soll ein Land, das zuhause eine solch menschenfeindliche Gesellschaft entwickelt hat, in der Welt anders agieren als mit Verachtung, Egoismus und Expansionswillen?
Es ist ein Paradoxon.
Weiterführende Links:
Die Lebenslüge der Bundesrepublik (Telepolis)
Informationen zum Waffenexport (waffenexporte.org)