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Die Grünen und der gute, alte Sex

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Es dauerte nicht lange, bis das Wort „Veggie-Day“ durch die Presse geisterte, nachdem die Grünen mit ihrer Forderung nach bezahlten Sexdiensten in Pflegeheimen die Gemüter erregt hatten. Einerseits kann das kaum verwundern, überrascht die ehemals für Umwelt und Frieden kämpfende Partei doch immer wieder mit Forderungen, die sie scheinbar planlos und wirr aus dem Hut zaubert. Andererseits ist der Vergleich mit dem Veggie-Day schon deshalb schlecht gewählt, weil es im einen Fall um fleischlose Ernährung ging, im andere dagegen um Fleisch pur – in Form von Sex. Die Aufschrei war groß, allerdings auch übertrieben theatralisch. Denn bezahlte Sexdienste gibt es längst, zum Beispiel in den Niederlanden.

Eine PR-Agentur, die den Grünen mal erklärt, wie man Forderungen prominent positioniert, ohne sich dem Gelächter oder dem Gebrüll von Medien und Bevölkerung auszusetzen, könnte wohl nicht schaden. Noch weniger schaden allerdings könnte ein wenig Respekt und Zugewandtheit für pflegebedürftige Menschen. Das zeigt schon die Reaktion von Karl Lauterbach, SPD. Er hält überhaupt nichts von bezahlten Sexdiensten in Pflegeheimen. Und er erklärt auch, warum: „Wir brauchen keine bezahlte Prostitution in Altersheimen, schon gar nicht auf Rezept. Was wir brauchen, ist mehr Intimität für die Heimbewohner.“ Leerer könnte eine Worthülse kaum sein, denn fehlende Intimität ist nur nur bei pflegebedürftigen Menschen ein Problem, sondern ganz allgemein. Auch Eugen Brysch (Deutsche Stiftung Patientenschutz) findet, dass Sex im Alter kein Thema sei: „Wer täglich damit zu kämpfen hat, beim Stuhlgang, Waschen und Essen Hilfe zu erhalten, hat andere Sorgen.“ Das mag stimmen, macht aber nicht 24 Stunden des Tages pflegebedürftiger Menschen aus. Zudem am 9 Januar 2017 auf ndr-info ein Bericht zu hören war (er ist nicht mehr im Netz zu finden, liegt mir aber als Audio vor), in dem niederländische Mediziner und Pflegekräfte bestätigten, dass Sex durchaus zu Verbesserungen anderer Körperfunktionen und nicht zuletzt der Psyche beitragen.

Noch weiter in seiner Ablehnung geht der Pflegeforscher Wilhelm Frieling-Sonnenberg von der Hochschule Nordhausen. Er findet die Idee des Sexdienstes gar „menschenverachtend“ und meint, es gehe allenfalls darum, Menschen durch sexuellen Druckabbau wieder funktionstüchtig machen zu wollen, damit sie pflegeleichter seien. Würde das tatsächlich stimmen, gibt Frieling-Sonnenberg zumindest zu, dass sexueller Druckabbau eine gewisse Wirkung erzielt, was wohl jeder von uns bestätigen wird können. Warum aber sollte Druckabbau allgemein sinnvoll sein, bei pflegebedürftigen Menschen aber „menschenverachtend“?

Unaufgeregt berichtete schon im Jahr 2010 der Spiegel über bezahlte Sexdienste in den Niederlanden. Der Bericht ist nicht getränkt durch sabbernde Wahlkampfteilnehmer, sondern fokussiert sich auf die Effekte der Dienstleistungen.

Die Forderung der Grünen ist also bei Licht betrachtet weder unangebracht noch menschenverachtend. Er zielt in die richtige Richtung und spricht eine Zielgruppe an, die sonst eher für private Pflegeversicherungen interessant ist, weil sich damit gutes Geld verdienen lässt (wenngleich man gut daran tut, sich derlei Gedanken zu machen, bevor „das Haus brennt“, denn sonst wird das nichts mit der vermeintlich hochwertigen Pflegeversicherung). Sie haben nur einmal mehr den falschen Zeitpunkt und die falsche Ansprache gewählt. Aber die Grünen sind ja noch so jung. Vielleicht sind sie in der Lage, das eine oder andere intern zu verbessern. Zum Beispiel die Haltung zu militärischen Auslandseinsätzen der Bundeswehr.

Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«.

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